Wohnzimmer und Partitur gut aufgeräumt
REST DER WELT / STYRIARTE
04/05/20 Gerade jetzt, da die Salzburger Festspiele auf der Kippe stehen, ist es interessant, sich umzusehen, wie andere Festivals mit der Situation umgehen. Zum Beispiel die Styriarte. Dort hat man sich am Donnerstag (30.4.) online mit einem Originalbeitrag als Live-Stream zu Wort gemeldet: mit der Uraufführung einer Corona-Meditation von Gerd Kühr.
Von Reinhard Kriechbaum
Für die Bregenzer Festspiele, die (so wie die Entscheidungsträger in Salzburg) offiziell noch bis 30. Mai zuwarten, hat deren Präsident Hans-Peter Metzler am Wochenende in einem Zeitungsinterview vorerst immerhin ein Ganz-oder-gar-Nicht deklariert. Entweder das Programm könne zu Gänze wie geplant stattfinden, oder man verschiebe aufs nächste Jahr.
In Graz, wo die Styriarte schon am 19. Juni begonnen und bis 19. Juli gedauert hätte, ist längst klar: Das gedruckte Programm ist Makulatur. Es wäre aber nicht der findige Intendant Mathis Huber, würde er nicht schon über „neue Formate“ nachdenken. Jedenfalls wollen die Styriarte-Macher ihr Programm „bis Ende Mai 2020 neu erfinden“, verlautet man. Dem Vernehmen nach wird es einige Konzerte in der Helmut-List-Halle geben, vor erlaubt-wenig Zuhörern im Saal, die dann per Live-Stream einem größeren Publikum zugänglich gemacht werden.
Der Unterschied beispielsweise zu einer ORF-Liveübertragung wäre, dass man dafür zahlen muss. Ist damit zu rechnen, dass Menschen sich also an den PC oder ans Smartphone hängen werden, um solches zu mitzuerleben? Die Corona-Meditation von Gerd Kühr war nun ein Versuchsballon. Der „Kartenverkauf“ hatte fürs Erste symbolischen bzw. karitativen Charakter (9 Euro für den Zugangs-Link, für Spendable eine 99 Euro-Option, für besonders Großherzige ein 909 Euro-Offert). Ums Geld ging es nicht, denn der Stream war ja auf Youtube, konnte also von der ersten Sekunde mit anderen geteilt werden.
Interessanter: Wie viele Leute hat man erreicht? Wie viele Leute gerade dranhängen, wird auf Youtube dankenswerterweise angezeigt. 191 waren es bei Konzertstart (um 20.20 Uhr), eine Viertelstunde später 209. Mit ein klein wenig Bergauf und Bergab waren es im zweiten Durchlauf des Werks (dem interessanteren, weil experimentellen Teil) um die 210 Leute. Seit 1. Mai haben – Stand heute (4.5.) Mittag – 642 Leute gelauscht und beobachtet. Also kein Großereignis – aber ja, es war schließlich ein Erstversuch.
Corona-Meditation: Zum Meditieren ist Gerd Kühr gekommen, nachdem er in München bei den Vorbereitungen zu seiner Oper Stallerhof von den Corona-Restriktionen überrascht wurde und er schließlich in der Steiermark für zwei Wochen sicherheitshalber in Quarantäne stand. Die Idee seines Stücks ist die, im virtuellen Raum so etwas wie Hausmusik-Atmosphäre zu schaffen. Mit Hilfe des Konferenzprogramms Zoom konnten sich beliebig viele Klavierspieler zu den beiden führenden Pianisten – Olga Chepovetsky in Graz und Philipp Scheucher in Hannover – zuschalten. Sie hatten die Noten per Download erhalten und konnten nun selbst entscheiden, ob sie alles spielten oder oder nur Einzelnoten beitrugen. Es waren ja dezidiert auch Amateure aufgerufen, sich einzubringen. Per Kopfhörer kam einigermaßen metrische Ordnung in weite virtuelle Welt. Und die war wirklich nicht klein, es gab Beiträge aus New York und London genau so wie aus Tirana. Der Pianist Markus Schirmer werkte im Grazer Wohnzimmer, aus dem Salzburgischen mischte Ariane Haering mit. Eine bunte Schar manch bekannter und vieler unbekannter Namen, 58 Leute insgesamt. Die meisten saßen an Pianinos, etliche am Flügel. Einer spielte auf dem E-Piano, ein anderer mengte sich ganz unauffällig mit der Gitarre ein. Sie alle kamen manchmal im Wimmelbild, dann wieder in größeren Ausschnitten ins Bild. Der Ton wurde live gemischt.
Die meisten Wohnzimmer wirkten übrigens so gut aufgeräumt wie Gerd Kührs Partitur. Der Komponist hat natürlich auf die Technik (und notgedrungene Verzögerungen) Bedacht genommen. In ein Grundgerüst aus leeren Oktaven in Bass und Diskant (im Quintabstand) gesellt sich alle vier Takte ein zusätzlicher Ton, bis das Dutzend unseres Tonsystems erreich ist. Das passiert in extrem langsamem Tempo (37 Schläge pro Minute). Da durfte man wahlweise an Arvo Pärts „Glöckchen-Stil“ denken oder an Minimal Music, die Morton Feldman extrem verlangsamt hat. Zeitliche Unschärfen und eine gewisse Zufälligkeit ist ausdrücklich „einkomponiert“, sprich erwünscht und erhofft.