Maximalismus und Minimalismus
WIEN MODERN 32 / PROGRAMM 2019
24/10/19 Unter dem Titel „Wachstum“ bietet die 32. Ausgabe des Musikfestivals Wien Modern ironischerweise rund 20 Prozent weniger Veranstaltungen als im Vorjahr. Das sind 100 Veranstaltungen mit 80 Uraufführungen und 29 österreichische Erstaufführungen, 67 Aufführungen, 33 Begleit-Veranstaltungen, 49 verschiedene Produktionen, an 33 Spieltagen, an 24 Spielstätten in 12 Wiener Bezirken.
Den Begriff „Wachstum“ versteht das Festival Wien Modern 32 bewusst aus einer anderen Warte: Musik als Kunst der Gegenwart horcht mit ihren ganz eigenen Mitteln auf den Herzschlag der Zeit. Die heute herrschende Wachstumsrichtung heißt: Schneller, höher, stärker; die Musik kennt aber andere Richtungen: Inmitten einer rauschenden Überbietungslogik, bröckelnder Wachstumsversprechungen und vielkanaliger Überforderung entstehen in der Musik vermehrt lange und dichte Hörerfahrungen – ebenso wie winzige, zarte, ephemere, fast verschwindende neue Formen. Zahlreiche Künstlerinnen und Künstler wollen im Rahmen von Wien Modern 32 zeigen, dass es nicht schwer ist, den Begriff Wachstum ein wenig aus der Starre zu befreien, in die er durch die eindimensionale Verwendung in Wirtschaft, Stadtplanung und Politik geraten ist.
An verschiedenen Spielstätten in ganz Wien zeigt das Festival vielfältige Formen des Maximalismus und Minimalismus: Als Einstieg zum Thema „Wachstum“ kommt im Rahmen des Eröffnungskonzerts am 31. Oktober etwa ein Vulkanausbruch gerade recht: Die gewaltige Eruption des Vulkans Hekla 1947/1948 verarbeitete der Augenzeuge Jón Leifs zu einem der lautesten Orchesterstücke aller Zeiten. Im selben Konzert steht auch noch Lucianio Berios überbordende Sinfonia mit den Swingle Singers auf dem Programm.
Um Michael Herschs Musik, die in Wien fast nie zu hören war, gebührend zu präsentieren, wird das bislang umfangreichste Werk des 1971 in Washington, D.C. geborenen Komponisten auf die Bühne gebracht – einen ganzen Tag lang. Seine Trilogie sew me into a shroud of leaves ist winzig in der Besetzung jedoch riesig in ihrer Dichte und Dauer: Von kurz vor Sonnenaufgang bis nach Sonnenuntergang kann man die Gesamturaufführung des 11 Stunden (mit Pausen 15 Stunden) umspannenden Werks im barocken Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek erleben.
Frederic Rzewskis monumentaler Klaviervariationenzyklus The People United gilt als unspielbar. Oder, bescheidener ausgedrückt, in den Worten des Komponisten: "Es ist ein langes, schwieriges Stück, der Pianist wird müde. Diese physische Erschöpfung ist Teil des Werkes." Die Anstrengung gilt einem großen Thema: Das von Sergio Ortega komponierte gleichnamige Lied war 1973 in Chile zum Symbol des Widerstands gegen die Militärdiktatur geworden. Bei der vierten Interpretation von The People United im Wiener Konzerthaus (nach Ursula Oppens 1993, Marc-André Hamelin 2003 und Igor Levit 2016) sitzt der Komponist persönlich am Konzertflügel.
Außerdem werden zwischen Dieter Schnebels weltumspannender Sinfonie X, Pierluigi Billones FACE Dia.De , Lera Auerbachs dreistündigen Demons and Angels bis hin zu Peter Eötvös im Abschlusskonzert auch Tanz- und Performanceproduktionen im Tanzquartier Wien, im Kunsthistorischen Museum, im Studio Molière und im Reaktor gezeigt. (Wien Modern / dpk-jw)