Die Reinheit und die Beziehungsangst
REST DER WELT / GRAZ / EUGEN ONEGIN
18/12/17 Tatjana, die bisher ihr Buch nicht weggelegt hat, scheint sich hinter dem überlangen, schmalen Tisch (dem einzigen Ausstattungsstück dieses kargen „Eugen Onegin“) verstecken zu wollen. Und ist doch ganz Auge, ganz Blick für den jungen Mann. Onegin schaut geradlinig auf sie: Liebe auf den ersten Blick.
Von Reinhard Kriechbaum
Die niederländische Regisseurin Jetske Mijnssen und ihr Bühnenbildner Gideon Davey haben in der Grazer Oper einfach alles rausgeräumt aus Tschaikowskis Oper. Ein heller Holzdekor-Quader, in dem man keine Türe wahrnimmt, dazu fast über die ganze Bühnenbreite besagter ultra-langer und ultra-schmaler Tisch. Einsamkeit und Ausweglosigkeit sind greifbar wie nur, und wenn die Rückwand hochgezogen wird, ist's dahinter kohlrabenschwarz. Null Perspektive für alle Figuren.
Reduzierter, aber auch treffsicherer in der Personenführung kann man den „Eugen Onegin“ nicht inszenieren, die Aufmerksamkeit wird unmittelbar auf jede Geste, auf jeden Blickwechsel gelenkt. Und vor allem steht nichts der Wahrnehmung dessen entgegen, was die neue Grazer Opernchefin, die Ukrainerin Oksana Lyniv, in Tschaikowskis Partitur hörbar macht. Das scheinbar so geradlinige melodische Lineament, über und neben dem doch immer die Schlagschatten der Melancholie schweben – das setzt die Dirigentin mit geradezu überrumpelnder psychologischer Genauigkeit um.
Das Grazer Philharmonische Orchester spielt, so wirkt's, schon den ganzen Herbst über (unter den anderen Kapellmeistern des Hauses) wie von Last befreit. Der bisherige Chefdirigent, Dirk Kaftan (jetzt Chef des Beethovenorchesters Bonn), war ja ein übergroßer Knaller vor dem Herrn. Nun, in der ersten von Oksana Lyniv verantworteten Opernproduktion, legt sich das Orchester noch einmal so recht ins Zeug, um bis zum letzten Bläserpult seine lyrischen Fähigkeiten auszuspielen. Doch aus dieser Ecke holt Oksana Lyniv ihren Tschaikowski auch gleich wieder heraus, indem sie nicht spart mit Deftigem und wohl-stilisiert Kantigem, nicht nur in den Tänzen. Das geht bis zu deutlich vernehmbarem „off-beat“.
Ein so lyrischer, wie analytisch-erfrischender Blick auf die Komposition. Vom Orchestergraben her werden Optionen angeboten und von einem gediegen geformten Ensemble eingelöst. Das hat, in der Ebenmäßigkeit der sängerischen, aber auch darstellerischen Leistungen, Festspielniveau. Dariusz Perczak (eigentlich Zweitbesetzung) hat schon die Premiere übernommen. Er ist ein Onegin, der keineswegs versnobt, gar herablassend wirkt. Wie er auf Tatjana zugeht und sich ihr doch verschließt, sie abweist – das ist in der delikaten sängerischen Gestaltung glaubhaft gelebte Beziehungsangst. Pavel Petrov, ebenfalls Mitglied im Grazer Opernensemble, schmachtet und leidet als Lenski durch die Leidenschaften dieser Rolle, daß es einem nahe geht: ein höhensicherer und wie unaufdringlicher Tenor.
Hoch interessant diese Olga (Yuan Zhang), die gleich zu beginn mal mit gleich vier Chor-Männern flirtet und sich im zweiten Akt Onegin deutlich williger hingibt, als man es einer Figur aus der besseren Gesellschaft zutrauen würde. Ein mit differenzierter Altstimme mehr als plausibel gestaltetes Rollenbild zwischen anerzogener Verhaltenheit und juvenilem Auf- und Ausbruchswillen. Für die anderen wichtigen Frauenfiguren hat man Gäste verpflichtet, Christina Baader als Larina, Elisabeth Hornung als Filipjewna (die so gar nichts Betuliches in diese Rolle einbringt, sondern als Amme eine ernst zu nehmende Begleiterin Tatjanas ist).
Oksana Sekerina, die Tatjana: eine völlig schlackenlose, mühelos über jedes Forte und über jede Höhe geführte Stimme, fast ein Ebenbild der Reinheit und des Zutrauens, wie sie gerade dieser Rolle eignen. Das ist genau jene Diktion, an der sich Anziehung und Abstoßung zwischen Tatjana und Onegin aufs Plastischste entfalten können.
Minutenlanger Zwischenbeifall nach der Briefszene, in der ein weiteres Ausstattungsstück Bedeutung bekommt. Die Tischdecke wird nämlich erst zum Bettlaken umfunktioniert, und dann steht dieses riesenlange Stück Stoff gleich auch fürs Briefpapier, dem Tatjana ihre Hoffnungen, ihre Projektionen auf Onegin anvertraut. Sorgsam wird es zusammengelegt, zerknüllt wird es Onegin der jungen Dame zurückgeben. Und dann ist es noch mal wichtig, denn im dritten Akt bleibt es nicht bei einer gesellschaftlichen Begegnung zwischen Tatjana und Onegin – die beiden scheinen eine Nacht miteinander verbracht, sich eingehüllt zu haben in besagte Stoffbahn...
Die Inszenierung arbeitet der musikalischen Feinmotorik dieser Aufführung präzise zu wie ein Uhrwerk. Besonders auch in der Duell-Szene, für die der Quaderraum quasi in der Mitte auseinander geschnitten wird – keine anderthalb Meter, und doch unüberwindbar für die beiden jungen Männer, die beide unsäglich leiden an der aufbrechenden, bald für einen von ihnen tödlichen Feindschaft.