Unerwarteter Besuch im Luxushotel
REST DER WELT / MÜNCHEN / DER FEURIGE ENGEL
04/12/15 Mit Sergej Prokofjews „Der feurige Engel“ setzte die Bayerische Staatsoper erneut ein Werk auf den Spielplan, das noch nie zuvor im Nationaltheater zu sehen war. Vladimir Jurowski dirigiert den musikalisch und szenisch grellen Abend. Regie führte Barrie Kosky.
Von Oliver Schneider
Jahrzehntelang findet der 1927 abschließend von Prokofjew instrumentierte, aber erst 1955 uraufgeführte „Feurige Engel“ nach dem gleichnamigen Roman von Waleri J. Brjussow nur selten den Weg auf die Opernbühnen. Innerhalb weniger Jahre steht er dann in Brüssel, Berlin, Düsseldorf und jetzt in München auf dem Programm. Immer mit Svetlana Sozdateleva in der Titelrolle. Für ihre Berliner Renata – die Produktion wird am 10. Dezember an der Komischen Oper wiederaufgenommen – war sie bereits für den Faust nominiert. So überzeugend sie die von Dämonen heimgesuchte Frau, die sich von Kindheit an mit einem Engel verbunden fühlt, zuletzt am Rhein in einer Psychiatrischen Anstalt interpretierte, in München gelang ihr eine noch packendere Darstellung.
Regisseur Barrie Kosky und sein Regieteam verorten die Handlung in einer plüschigen Suite eines Luxushotels (Bühne: Rebecca Ringst, Kostüme: Klaus Bruns), in der Ruprecht nach einem anstrengenden Tag plötzlich mit einer fremden Frau, der hysterischen Renata, konfrontiert ist. Mitleiderregend – weil ihr Irrsinn von Anfang an durchschimmert – erzählt sie von ihrer Liebe zum Engel Madiel. Diese Renata zieht Ruprecht sofort in ihren Bann. Das anfängliche Mitleid verwandelt sich rasch in Liebe und später Begierde, durch die er selbst von ihrer Hysterie angesteckt wird und ihr verfällt. Bei Brjussow und Prokofjew fällt sie dem Inquisitor in die Arme. Kosky geht weiter und lässt blasphemisch Jesus selbst mit Dornenkranz als Inquisitor auftreten, während die Nonnen im Kloster als seine Klone gezeichnet sind.
Renatas Halluzinationen bieten dem Regisseur eine Spielwiese, um seiner bildfokussierten Fantasie freien Lauf zu lassen. Tanzende Männer in Reifröcken, mit Tattoo-bedeckten Oberkörpern oder in Strapsen, Travestie pur, harmonieren bestens mit den grell-grotesken Zwischenspielen (Choreographie: Otto Pichler). Immer wieder verschieben sich Wände und die Decke, die Lichtregie (Joachim Klein) unterstützt die abrupten seelischen Stimmungswechsel Renatas und wechselt zwischen der gedämpften Atmosphäre in der Luxussuite und fast schon klinischer Kälte, wenn Ruprecht zum Beispiel den Pseudowissenschaftler Agrippa von Nettesheim (erfreuliche Wiederbegegnung mit Vladimir Galouzine) vor sich wähnt.
Svetlana Sozdateleva als Renata gelingt im Nationaltheater eine unter die Haut gehende Mischung aus idealer musikalischer Interpretation – klar in der Erzählung, so dass man meint, sie zu verstehen, ohne der russischen Sprache mächtig zu sein, sicher in den Spitzen und einnehmend in den ariosen Momenten wie in der gespielten Expressivität. Evgeny Nikitin ist mit seinem üppigen Organ der ideale Ruprecht. Auch typmässig mit seinen langen Haaren und den bekannten Tattoos, von denen man am Arm etwas sehen darf. Dass in einem Luxushotel plötzlich eine Wahrsagerin auftaucht, ist bei vom Wahnsinn befallenen Menschen nicht weiter verwunderlich und passt ins Regiekonzept. Elena Manistina ist in dieser kleineren Rolle der einzige weitere Gast in der Besetzungsliste, alle anderen Partien sind ausgezeichnet hauseigen besetzt. Erwähnt seien stellvertretend Kevin Connors als Mephistopheles und Igor Tsarkov als Faust, in deren Szene die fleischliche Lust – und letztlich geht es auch bei Ruprecht und Renata um das – mal wieder deutlich gezeigt wird.
Geradlinig und straff in der Sängerbegleitung und zugespitzt in den eruptiven Zwischenspielen führt Vladimir Jurowski die Musikerinnen und Musiker des Bayerischen Staatsorchesters durch die Partitur, was den pausenlosen, zweieinviertelstündigen Abend zu einem fesselnden Hörerlebnis werden lässt. Zu einem Hör- und „Seh“-Erlebnis muss man sagen, denn so abgerundet im Frühjahr die Düsseldorfer Produktion wahr, genauso stimmig ist dieser Münchner Feurige Engel. Der Jubel des Münchner Publikums am Ende der zweiten Vorstellung bestätigte dies.