Lulus Weg über Leichen
REST DER WELT / MÜNCHEN / LULU
27/05/15 Kirill Petrenko und Regisseur Dimitri Tcherniakov gaben im Münchner Nationaltheater mit einer Neuinszenierung von Alban Bergs „Lulu“ ihr Werkdebüt. Gespielt wird in und vor einem Glaslabyrinth.
Von Oliver Schneider
Ein größerer Kontrast ist kaum vorstellbar: Ende Jänner stand Generalmusikdirektor Kirill Petrenko auch bei der letzten Premiere – Donizettis „Lucia di Lammermoor“ – am Pult. Nun, vier Monate später bei Alban Bergs „Lulu“ in der von Friedrich Cerha ergänzten Fassung. Sowohl für ihn als auch für den Regisseur des Abends, Dimitri Tcherniakov, war von Anfang an klar, dass sie nicht die fragmentarische Fassung auf die Bühne bringen wollten. Und es war trotz einiger Längen gut so, denn die ergänzte Fassung macht noch stärker deutlich, wie stark der Schönberg-Schüler Berg die Tradition der Spätromantik, des Impressionismus sowie auch die Leitmotivtechnik mit der Zwölfton-Konstruktionslehre verbindet. Den Konnex zur Spätromantik spürt man vor allem in den klanglich dichten Verwandlungsmusiken, in denen Petrenko und das fabelhafte Staatsorchester Emotionalem Raum lassen. Wie nicht anders zu erwarten, dominiert ansonsten ein präzises, lockeres Klangbild. Petrenko trägt die Solisten förmlich durch die Partitur, was zur hohen Textverständlichkeit viel beiträgt. Man kann es gar nicht oft genug sagen und schreiben: Mit ihrem Generalmusikdirektor Kirill Petrenko hat sich die Bayerische Staatsoper klar an die Spitze an der deutschsprachigen Opernhäuser katapultiert, zumindest was die Orchesterleistung betrifft.
Dimitri Tcherniakov fokussiert sich in seinem Kammerspiel-Regiekonzept auf die Femme fatale, das Sehnsuchtsobjekt aller Männer (und Frauen), das Opfer aller und die Mörderin: Lulu. Marlis Petersen, die die Rolle in München bereits zum neunten Mal verkörpert, ist wohl zurzeit die Lulu schlechthin, stimmlich und darstellerisch. Wie eine Katze weiß sie sich als unschuldiges Lämmchen, mal zärtlich berechnend, mal schlau oder bestimmend, dann wieder eiskalt zu geben. Tcherniakov scannt diese Frau vor den Augen des Zuschauers, projiziert ihr vielschichtiges Wesen nach Außen, wogegen er für die ihr hörigen Männer und die lesbische Gräfin Geschwitz eher holzschnittartiges Beschreiben übrig hat. Ohne Lulu, Eva oder Mignon wären sie nicht denkbar.
Lulu und ihre Liebhaber beziehungsweise Ehemänner sind Archetypen, die zeitlich nicht fixiert werden müssen. Bei Tcherniakov könnte es unsereiner sein, die wir uns in Anzügen und Abendkleidern (Kostüme: Elena Zaytseva) in dem auf der Bühne platzierten Glaslabyrinth verirren. Eine grundsätzlich interessante Idee, die aber nicht zu Ende gedacht wirkt. Immer wieder wird in den Zwischenspielen das schicksalhaft aneinander gekettete Paar Lulu / Dr. Schön – der einzige Mann, denn Lulu wirklich liebt – vervielfacht und damit der Gedanke des Kammerspiels konterkariert. Im Hause Dr. Schöns dienen die Glaskammern des Labyrinths immerhin als Verstecke für die Liebhaber Lulus. Im Paris-Bild des dritten Aktes schließlich bildet das Glaslabyrinth eine Art Wand zwischen Lulu und der Gesellschaft: sie draussen mit Pelzmütze und Muff, die Gesellschaft hinter Glas.
Schön anzusehen ist das Labyrinth mit seinen zu wenig spiegelnden Wänden, wenn auch gefährlich für die Protagonisten, wie Marlis Petersen bei der Premiere feststellen musste. Aber eigentlich würde ein einfacherer Raum einem so kongenialen „Personenführer“ wie Tcherniakov reichen. Ein paar unvermeidliche Buhs musste er am Premierenabend auch einstecken, die aber von den deutlich stärkeren Bravorufern zugedeckt wurden.
Nur Bravi gab es für das Orchester und die Solisten. Die Petersen lotet die Lulu stimmlich bis in galaktische Höhen blitzblank intonierend aus. Bereits im Herbst steht ihre zehnte Lulu an der New Yorker Met an. Daniela Sindram debütierte als Gräfin Geschwitz, der man die echte Liebe zu Lulu und ihren Aufopferungswillen in jedem Moment abnimmt. Bo Skovhus hat seinem breiten Repertoire mit dem Dr. Schön eine weitere wichtige Rolle hinzugefügt. Er verkörpert die männliche (?) Ohnmacht gegenüber einer Frau, für die er sich väterlich verantwortlich fühlt, die er liebt und hasst zugleich. Skovhus stößt stimmlich mit dieser Partie klar ins heldenbaritonale Fach vor. Matthias Klink gibt seinen Sohn Alwa mit vielen Ausdrucksnuancen, Rainer Trost einen Maler und Neger (sic!) mit tragfähigem lyrischem Tenor. Martin Winkler bringt als Tierbändiger und vor allem als Athlet, der Lulu nach ihrem Gefängnisaufenthalt zur Akrobatin machen will, sein ganzes Bühnentemperament ein, Wolfgang Alblinger-Sperrhacke leiht dem Prinzen, Kammerdiener und erpressenden Marquis seinen spitzen Charaktertenor. Etwas stumpf klingt nur der Schigolch von Pavlo Hunka.
Die neue Münchner „Lulu“ sollte man sich nicht entgehen lassen.
Weitere Aufführungen: 29. Mai, 3., 6. und 10. Juni; 20., 23. und 26. September (im September mit Cornelius Meister am Pult) – https://www.staatsoper.de/stueckinfo/lulu.html