Traum mit Todesfolge im Handelskontor
REST DER WELT / ZÜRICH / DER FLIEGENDE HOLLÄNDER
11/12/12 Das Wagner-Jahr wirft immer größere Schatten voraus. Wer am zweiten Adventswochenende Lust und Zeit hatte – und zu der beschränkten Zahl der glücklichen Kartenbesitzer gehörte –, konnte nach dem Mailänder „Lohengrin“ in Zürich einer hochkarätig besetzten Premiere des „Fliegenden Holländers“ beiwohnen.
Von Oliver Schneider
Bryn Terfel in der Titelrolle, der leider viel zu selten auf den Bühnen des europäischen Festlands zu Gast ist, und Anja Kampe als Senta, der Dirigent Alain Altinoglu als Haus-Debütant an der Zürcher Oper: Das Publikum jubelte zum Schluss, und auch das Regieteam musste nur wenige Buhs einstecken.
Hausherr Andreas Homoki gab mit dieser Produktion seinen Einstand als Regisseur in Zürich. Gemeinsam mit dem Bühnenbildner Wolfgang Gussmann spürt er den Linien zwischen der Entstehungszeit des Werks am Ende des Biedermeier und dem Romantischen als Sehnsucht nach dem Fremden nach. Daland ist ein reicher Handelskontorist an der Wende des vorletzten Jahrhunderts, der dank des Kolonialismus reich geworden ist. Die Afrika-Landkarte an der Wand zeigt, wo sich seine Niederlassungen befinden. Dienen müssen in seinem Haus deshalb nicht nur die vielen Kontormitarbeiter und die von Chefsekretärin Mary beaufsichtigten Stenotypistinnen (Kostüme: Wolfgang Gussmann und Susana Mendoza), sondern auch ein wohl von einer Reise mitgebrachter dunkelhäutiger Afrikaner.
In diese Welt des Strebens nach Geld und Macht dringt der Holländer wie ein irreales Traumbild ein, das für den geheimen Wunsch nach Befreiung vom gesellschaftlichen Zwang steht. Bewegungen in Zeitlupe, Sentas Erscheinen, wenn der Holländer bei seinem ersten Auftreten von der Rettung durch eine Frau singt, gespenstisches Licht, sich verschiebende Wände zeigen den Einbruch des Traumhaften in die Wirklichkeit an. Das Holländerschiff taucht nur auf einem Meergemälde in der Spinnstube auf, auf dem mal die Wellen wild animiert werden oder eben das Geisterschiff vorbeifährt. Den Holländer-Chor würde man zwar lieber nicht aus dem Off hören, aber regiemässig ist die Lösung so stimmig.
Im dritten Akt zeigt Homoki, wohin der europäische Kolonialismus letztendlich geführt hat: Die Afrika-Landkarte brennt, und der zuvor malträtierte dunkelhäutige Diener wird im Traum zum mordenden Schamanen. Durch den Alptraum konkretisiert Homoki das latente Unrechtsbewusstsein und die heute offensichtlichen Folgen des „Systems Daland“ szenisch.
Der gut durchdachte und trotzdem nicht verkopfte oder überfrachtete Ansatz findet einen Widerhall in der ausgezeichneten Personenführung, deren Höhepunkte die Szenen zwischen Senta und Erik sowie Senta und dem Holländer bilden. Freilich, es stehen Homoki auch die entsprechenden Sängerpersönlichkeiten zur Verfügung.
Stimmlich ist Terfels unverwechselbarer, markanter Bassbariton fast zu voluminös für das intime Zürcher Haus. Vielleicht würde ein bißchen Zurücknahme gut tun und die anderen Protagonisten weniger dazu verleiten, mit (zu viel) Druck zu singen. Doch vielleicht unterstreicht auch gerade dieses schier unbegrenzte Volumen in Kombination mit der herausragenden Artikulation die Bedrohung, die vom dämonischen Holländer auf die biedere, nur auf das Vermehren materiellen Reichtums ausgerichtete Welt Dalands ausgeht.
Anja Kampe, die sich am Schluss mit Eriks Jagdgewehr umbringt, überstrahlt zwar ebenso mühelos das Orchester und überzeugt mit ihrer breiten, klangvollen Mittellage. In den Forte-Höhen verengt sich ihre Stimme aber rasch. Matti Salminen singt bereits seinen dritten Zürcher Daland und beeindruckt immer noch mit darstellerischer und sonorer Autorität, wobei man bei letzterer naturgemäß mittlerweile Abstriche machen muss. Marko Jentzsch konnte am Premierenabend trotz Indisposition in der Gestaltung der grossen Bögen und mit seinem strahlkräftigen, hell timbrierten Heldentenor punkten. Fabio Trümpy lässt als „Steuermann“ im Kontor aufhorchen. Liliana Nikiteanu ist eine strenge und präsente Mary. Der von Jürg Hämmerli einstudierte Herrenchor überzeugt mit kraftvollem, homogenemKlang, die Damen sind zuweilen etwas schrill.
Der hoch gehandelte Alain Altinoglu steht erstmals am Pult der Philharmonia Zürich. Der junge französische Dirigent führt das Orchester präzise und akkurat durch die Urfassung. Er hat das Orchester und auch die nicht einfache Zürcher Akustik im Griff, doch ein bißchen mehr Energie würde der Abend vertragen. Hier liegt noch Entwicklungspotenzial für die kommenden Vorstellungen.