Künstler, Träumer, Technokraten
REST DER WELT / BERLIN / 120 JAHRE THEATER AM SCHIFFBAUERDAMM
29/02/12 Vor dem Haus des „Berliner Ensembles“ hält Bertolt Brecht Wache. Eisern, aber in Bronze. Blickt aus schmalem Auge in die Weite. Was denkt er? Dass es hier gut ist auszuruhen? So sieht er nicht aus. Wirkt aber auch nicht nervös. Irgendwie – angekommen.
Von Hans Gärtner
Winterlich frostig ist es hier, am Schiffbauerdamm, ein paar Schritte vom S-Bahnhof Friedrichstraße , aber nur draußen. An diesem Februar-Abend 2012 gibt man – mehr als 100 Mal schon – Brecht/Weills „Dreigroschenoper“. Jungvolk überwiegt: krähenschwarz gekleidet meist. Kein Paradiesvogel darunter. Ein paar Herren fallen auf, im groben Karo-Wollhemd zur gegürteten Cordhose. Sie sehen eher nach jüngst in die Emeritierung gegangenen Professoren aus und geben dem durchweg einheitsgrauen Publikum was leicht Schräges. Als Kontrast zum schwülstig-plüschigen Interieur des zu den prachtvollsten Theatern Berlins zählenden Baus.
Im November 1892 wurde das Haus – zuerst „Neues Theater“, ab 1925 „Theater am Schiffbauerdamm“ - mit Goethes „Iphigenie auf Tauris“ eröffnet, dicht gefolgt von der Uraufführung der „Weber“ von Gerhart Hauptmann. Vor 120 Jahren war das alles. Von allem Anfang an ein Haus, das deutsche Theatergeschichte – nicht schrieb, sondern diktierte. Mit Gesichtern, die nie vergessen werden: Käutner, Verhoeven, Rudolf Platte, Ruth Berghaus, Tabori Wekwerth, Heiner Müller – bis Claus Peymann von der Wiener Burg nach Berlin ging, 1999.
Zuerst war es Max Reinhardt, der das Haus bis 1906 leitete und hier, kurz vor seinem Abschied, den legendären „Sommernachtstraum“ inszenierte. 1928 wird „Die Dreigroschenoper“ unter Erich Engel in Caspar Nehers Ausstattung uraufgeführt. Lotte Lenya, Kurt Weills Gattin, ist die Spelunken-Jenny, ohne auf dem Premierenprogramm genannt worden zu sein. Für Eklats und Skandale war das Haus, das fünfzig Jahre vor der Peymann-Intendanz Bertolt Brecht und (nach dessen Tod) seiner Frau Helene Weigel gehörte und gehorchte, schon immer gut.
Dem „Berliner Ensemble“, den Berlinern als BE geläufig, 1949 von Brecht und Helene Weigel gegründet, schenkt Peymann seine ganze Liebe. 1999 eröffnete er das Theater am Schiffbauerdamm unter diesem Label neu. Er holt die Crème de la Crème der deutschsprachigen Autoren, Regisseure, Ausstatter, Darsteller an sein Haus, das er als „Tribüne emanzipatorischer Selbstverständigung“ versteht, auf welcher „der Disput der Kultur mit der Politik, der Künstler mit den Mächtigen, der Träumer und Visionäre mit den Machern und Technokraten“ stattzufinden habe.
Unter Peymanns großen Regisseuren: der Texaner Robert Wilson, Jahrgang 1941. Die Saison 2007/2008 eröffnet er mit Brecht/Weills „Dreigroschenoper“. Die höchst artifizielle, wundervoll magisch-ästhetisierte, minimalistische und dennoch sinnliche, theatrale, menschlich-berührende Interpretation der grandiosen deutschen „Version“ von Gays „The Beggar`s Opera“, geschaffen vom Moralisten und Lehrstückeschreiber BB mit Weills revolutionärer Musik, ist vom Spielplan des BE nicht wegzukriegen.
An jenem Februar-Abend, an dem es dem starr auf seinem Bänkchen vor dem nächtlich beleuchteten BE-Block wachenden Bert Brecht nach gut drei Stunden „Oper“ leicht aufs kahle Haupt geschneit hatte, gab es im Anschluss an die lange mit Bravos bedachte Aufführung (brillant das BE mit Stefanie Stappenbeck, Polly, Stefan Kurt, Macheath, Jürgen Holtz, Peachum, Traute Hoess, Celia und Angela Winkler, Jenny) ein literarisch-musikalisches Nachtcafé über die Entstehung der „Dreigroschenoper“. Motto: „Und der Haifisch, der hat Zähne“.
Weltweit einzigartig: Das BE hat Robert Wilson, den unvergleichlichen Magier und Ästheten des Theaters, dessen extrem abstrakte, doch stets „verstehbare“, Metaphern-haltige Arbeiten von Salzburg bis Hamburg und London, von den Münchner Kammerspielen bis Zürich und Recklinghausen auch in Europa für Aufsehen sorgen, derzeit dreimal im Repertoire: Wedekinds „Lulu“, Musik-unterlegt von Lou Reed, gibt es Ende März zweimal, viermal im März ist der von Rufus Wainwright musikalisch begleitete Shakespeare-Sonetten-Abend angesetzt und der Erfolgs-Aufführungen der bravourösen „Dreigroschenoper“ soll auch im April noch kein Ende sein, wenn sie an fünf Abenden den Frühlingsmonat einläutet. „… mit Pauken und Flöten, mit acht Segeln und dem Fressen, das vor der Moral kommt“, wird sie von Presse und Publikum gleichermaßen weiterhin heftig applaudiert werden.
Nebenbei: Des Sammelns wert sind die BE-Programmbücher. Das (ausnahmsweise weiß statt schwarz gebundene) zur „Dreigroschenoper“ trägt die Nummer 91. Viele alte, die ersten sowieso (George Tabori: „Die Brecht-Akte“, Thomas Bernhard: „Der Ignorant und der Wahnsinnige“, Handke: „Publikumsbeschimpfung“) sind vergriffen. Letzte Ausgabe: Nummer 124: Bertolt Brecht: „Im Dickicht der Städte“, Regie: Katharina Thalbach. Schon vier Hefte mehr als das Theater des „Berliner Ensembles“ als Institution an Jahren auf dem Buckel hat.