Im Puppenhaus der Revolution
REST DER WELT / MÜNCHEN / ANDREA CHÈNIER
14/04/17 Sieht man den sensiblen Omer Meir Wellber, mag man ihm nicht abnehmen, dass er einen Historienschinken wie Umberto Giordanos Oper über das leidvolle Schicksal des französischen Dichters André Chénier so draufgängerisch-resolut und affektgeladen dirigieren würde, wie ihm das an der Bayerischen Staatsoper gelang.
Von Hans Gärtner
Von dem jungen Israeli hätte man aufgrund ihm eher zugemuteter Affinität zu dem feinsinnig-scheuen, historisch verbürgten Poeten Andrea Chénier ein zurückhaltendes Dirigat erwartet. Eine Überraschung bei der wohlgemerkt ersten Inszenierung des emotional aufgeladenen Verismo-Opus an Münchens großem Opernhaus mit so hohem Pathos und oft ohrenbetäubender Phonstärke aus dem Orchestergraben aufsteigen zu hören! Im kleinen Münchner Opernhaus am Gärtnerplatz gab es übrigens schon mal einen „Andrea Chénier“, das ist Jahre her und noch auf gut Deutsch gesungen gewesen, von Anton de Ridder in der Titelpartie.
Das von dem 50-jährigen wagemutigen und einfallsreichen Filmemacher Philipp Stölzl (unvergessen: seine aparte „Cavalleria Rusticana“ bei den Salzburger Osterfestspielen 2015) geschaffene knallhart realistische Szenario für das „Dramma di ambiente storico“ zum (w)irren Treiben der Französischen Revolution mag den irritiert haben, der es gewohnt ist, das Opernbühnengeschehen erst enträtseln zu müssen. In ein Breitwand-Puppenhaus mit einzelnen „Kammern“ blickte man: oben der überkandidelte Adel (pars pro toto: Doris Soffels aufgetakelte Gräfin di Coigny), unten das Gewusel der Unterdrückten, die aus der Fron der unverdient Reichen und Faulen befreit werden wollen. Das wichtige Lehr-Stück europäischer Umwälzungs-Geschichte illustrierte der wunderbare Philipp Stölzl mit seiner Kostümbildnerin Anke Winckler sehr unterhaltsam, manchmal auch ein wenig lächerlich und dröge. Er ließ es freilich bei einer zweiten Lesart bewenden.
Ihretwegen aber geht, seien wir ehrlich, eh keiner in diese Oper. 1896 in Milano uraufgeführt, gehört sie wie die „Cavalleria“ in den Verismus. Und der strotzt bekanntlich vor Melodramatik, die, zu Herzen gehend von Streichern, Holz und Blech süffig begleitet, aus den geschmierten und versiert geführten Kehlen hochpotenter Sänger(innen) dringt. Man kennt mindestens drei Arien und Ariosi, dazu das fulminante Liebesduett der am Ende in den Tod durch die Guillotine gehenden Protagonisten. Dass München für dieses Spektakel das Traumpaar Anja Harteros (Maddalena) / Jonas Kaufmann (Chénier) aufbieten kann, ist solitär. Der Abend lohnte sich allein schon ob der passgenau aufeinander abgestimmten, alle Register ihres überragenden sängerischen und darstellerischen Könnens ziehenden Solisten. Publikumsliebling Jonas Kaufmann galten Mitgefühl und erleichtertes Aufatmen, ihn nach langer gesundheitsbedingter Vakanz wieder fit und energisch zu erleben. Seine ihm mindestens ebenbürtige Partnerin Anja Harteros wurde freilich mit für ihn beinahe neidisch wahrgenommenem Szenenapplaus und Beifallsgetrampel gefeiert.
Mit Verlaub: Es gab ernsthafte Konkurrenz für das gefeierte Gespann: den kräftig, aber edel auftrumpfenden Heldenbariton Luca Salsi. Der Italiener verkörperte gestisch überwältigend den Carlo Gérard. Teils Gegenspieler, teils Kombattant des Titelhelden ist er die interessantere, charakterlich ambivalente Figur dieser in vielem widersprüchlichen, mit Revolutionsspitzeln, Fahnenschwenkern, Konkubinen, Tribunal-Geplänkel und Kerkerszenen überladenen Revolutions-Geschichte. Luca Salsi ersang sich in München große Sympathien.
Exzellent war manche kleine Rolle besetzt. Nur zwei von zehn seien erwähnt: Der alten Madelon, die unter Tränen ihren geliebten Enkel der Revolution überließ, lieh Elena Zilio ihren noch immer warmen Mezzo. Dem stets erregten Mathieu, dem Sansculotte, der mit der Trikolore den gut zweistündigen stürmischen Opernabend, die Marseillaise anstimmend, eröffnete, gab Tim Kuypers Gestalt und Verve. Ein Hoch auf Stellario Fagones agilen Staatsopernchor, diesmal gan besonders auch auf den Dramaturgen: Benedikt Stampfli schenkte den (Nach-)Lesern ein textlich, illustrativ und pfiffig gemachtes Programmbuch.