Kokett winkt die Oper aus dem Oratorium
BACHGESELLSCHAFT / TELEMANN ORATORIUM
05/04/23 Die Bachgesellschaft mit Georg Philipp Telemann! Das selige Erwägen heißt das Passions-Oratorium. Effektvoll litten und starben das Collegium Vocale und das L’Orfeo Barockorchester unter Michi Gaigg. Telemann zeigt sich als wagemutiger und moderner als Bach. Die Beliebtheit des Werks beim damaligen Publikum ist nachvollziehbar.
Von Erhard Petzel
Ein verdienstvoller Ansatz der Bachgesellschaft, den prominenten Zeitgenossen des großen Bach vorzustellen. Vor allem die Unterschiede zu dessen Passionswerk sind spannend. Denn Telemann nimmt sich hier Freiheit zu selbst verfassten Tex en, was beim Hamburger Klerus nicht auf ungeteilte Zustimmung stieß. Telemann zeigt sich hier wagemutiger und moderner als Bach, die Beliebtheit des Werks beim damaligen Publikum ist auch heute nachvollziehbar. Die Farbigkeit und direkt nach zu empfindende Lautmalerei in den durchaus beschwingten Musiknummern kitzeln aus dem schweren Passionsstoff des Neuen Testaments die Genuss-betonte Muse. Stärker als bei Bach winkt kokett die Oper aus dem Oratorium.
Das zeigt sich schon in der Organisation von neun Bildern als Betrachtungen, an sich schon eine theatrale Vorstellung. Es handelt sich dabei um Kantaten, die die Passionsgeschichte inhaltlich einfassen und an den Charakter von Kreuzwegstationen erinnern. Es gibt keinen Evangelisten. Statt dessen beleben Allegorien die Szene der Akteure zur Evaluierung der Handlung in Rezitativen und Arien.
Die Partie der Andacht musste am Dienstag (4.4.) im Großen Saal des Mozarteums aufgrund der Erkrankung des Tenors Bernhard Berchtold zwischen dem Tenor Virgil Hartinger und der Sopranistin Maria Ladurner aufgeteilt werden. Ursprünglich tatsächlich eine Frauenrolle, war die Fassung für Tenor weiland eine Bedingung für die Aufführung in der Hauptkirche. Dazu kommen je einmal der Glaube und Zion zu Wort. Sonst treiben die Hauptpersonen ihr Wesen und die Handlung vorwärts – in Erzählung, Reflexion und Dialogen: Jesus (Bariton, Markus Volpert), Petrus (Tenor, Virgil Hartinger) und Caiphas (Bariton, Stefan Zenkl).
Der Chor hat keine Turba-Funktion (als keine Kreuzige kreuzige- oder Wir dürfen niemand töten-Rufe) und bringt sich allein über die Choräle ein, die einst von der Gemeinde mitgesungen wurden. Entsprechend der Position in der Hierarchie des christlichen Kosmos sind auch die Rollen verteilt. Jesus stellt sich im Dialog mit der Andacht als Erfüller seines Erlösungsauftrags vor. „Leib und Blut“ sind in der kannibalistischen Dramaturgie der Eucharistie durch idente Da capo Arien gefasst, die einen Block aus zwei Rezitativen und einem Choral zum Blut einrahmen.
Durch solche formal retardierenden Elemente schafft Telemann eine organische Geschlossenheit bei aller Freiheit im Auskosten spektakulärer Effekte. So darf sich Petrus im zweiten Bild im Match mit Jesus hochdramatisch empören: Im Orchestersturm werden Folterqualen ausgemalt, die seinem treuen Herzen nichts anhaben könnten. In grotesken Koloraturen verlacht er solchen Schmerz.
Jesus’ Verweis auf die Verleugnung vor dem Hahnenschrei provoziert die Wiederholung dieser Arie. Das dritte Bild eröffnet Jesus am Ölberg mit einer freien Arie, die sich dem Da capo entzieht und mit starkem Ausdruck dem emotionellen Inhalt folgt. Anschließend klagt Caiphas Jesus an, der sich wild wehrt. Der Andacht und des Chors Betroffenheit ergreifen weit Raum.
Die fünfte Betrachtung gilt Petri Seelenqual, gemildert durch eine Arie des Glaubens. Danach wäre eine Pause zur Erquickung von Seele, Geist und Körper ganz nett gewesen. So folgte attacca der finale Jesus-Block mit Betrachtung zu seinen Wunden, der Kreuzigung (mit vehementer Kampfkraft als virtuoser Solist und Höllenbändiger), dem Sterben und der Reflexion zu seinem Tod. Das L’Orfeo Barockorchester unter Michi Gaigg bietet einen äußerst farbigen Untergrund mit immer wieder bestechend interagierendem Holz. Die Hörner dürfen sich als Gerichtsposaunen entäußern. Dass bei Originalinstrumentarium mit Darmsaiten der Kampf um die Stimmung Thema ist, ist halt so. Dass bei Einspringen für die ausladende Rolle der Andacht die Textverständlichkeit nicht immer oberste Prämisse ist, wohl auch. Ob sich das Collegium Vocale Salzburg vielleicht heimlich ein fulminantes Auftrumpfen oder wenigstens ein nettes Fugato gewünscht hat? Choräle sind auch was Schönes und fügten sich zudemin den Gesamteindruck eines bemerkenswerten und überzeugenden Werkes, das man gerne wieder hören möchte.
Bilder: BG / Virgil Hartinger