Ein wahrhaft imperialer Klang
CD-KRITIK / VOKALMUSIK FÜR DIE HABSBURGER
10/12/14 Zu jedem dieser Stücke lassen sich Geschichten erzählen – es ist ja nicht irgendwelche Musik, sondern solche, mit der sich Herrscher schmückten. Solche, mit der man wirklich Staat machen kann.
Reinhard Kriechbaum
Vielleicht erklärt sich die Siebenstimmigkeit von Thomas Tallis‘ Motette „Variis in linguis“ daraus, dass das Werk dazu bestimmt war, von zwei führenden königlichen Kapellen der Hochrenaissance gemeinsam aufgeführt zu werden: den Mitgliedern der „Capilla Flamenca“ (oder „Grande Chapelle“) Philipps II. und der „Chapel Royal“ von dessen Gattin, der englischen Königin Maria I. Tudor. Eine kühne, aber reizvolle Theorie, die Matthew O’Donovan, ein Bassist des fabelhaften Ensembles „stile antico“ im Booklet dazu entwickelt: Vielleicht sei der pfingstliche Inhalt (die unterschiedlichen Sprachen) auch als ironisches Statement für diese Aufführung zu verstehen, in der sich die Sänger nicht verstanden…
Ob wahr oder nicht – wir haben es mit Festspielen der Vokalpolyphonie zu tun und die reizvolle Zusammenstellung von Musik an den Habsburgerhöfen Maximilian I., Karl V. und Philip II. auf dieser CD spiegelt jedenfalls grenzüberschreitenden Geist. In dieser Epoche, da die Sonne über dem durch Heiratspolitik so groß gewordenen Habsburgerreich nicht unterging, war auch die Musik eine internationale. Ihre Schöpfer (und wohl auch ihre Ausführenden) waren „Welt-Musiker“.
Was also ist da alles beisammen? Repräsentativ-klangprächtige geistliche Musik, etwa ein dicht gearbeitetes „Jubilate Deo“ des Cristóbal de Morales, oder ein nicht minder polyphon konzentriertes Magnificat primi toni von Nicolas Gombert. „Mille regretz“, ein Lieblingslied des Kaisers Karl V., ist nicht nur in der Version von Josquin Desprez, sondern auch in einer viel späteren, bewegter melodisierten Fassung von Nicolas Gombert enthalten. Das „Absalon fili mi“ von Pierre de la Rue ist wahrscheinlich auf den Tod Philipps des Schönen komponiert, „Cartole magnus eras“ des Clemens non Papa ist ein Trauergesang auf Karl V. Einige der dem Titel nach geistlichen Motetten enthalten Subtexte, aus denen sich die Anlässe ihres Entstehens ableiten lassen: Da wird etwa in einem Paralleltext auf „Virgo prudentissima“ von Heinrich Isaac nicht nur Kaiser Maximilian beim Namen genannt, sondern auch ein gewisser Georgius, in dem die Musikwissenschaft Jurij Slatkoja ausgemacht haben, den ersten Kapellmeister von Maximilian I. Also, wenn man will, den Urvater der heutigen Wiener Sängerknaben…
Die Stärke von „stile antico“, dieser ambitionierten zwölfköpfigen englischen Vokalgruppe: Sie arbeitet ohne Dirigenten. Da lebt die Polyphonie mithin aus der unmittelbaren Reaktion der Vokalisten aufeinander. Kräftig, kernig klingen diese Stimmen, fast mit instrumentalem Applomb: Das imaginiert Effekte, die andere nur mit Stützung durch Bläserchöre erreichen.