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Mit geölten Stimmen

CD-KRITK / GREGORIANISCHER CHORAL

24/12/10 Gregorianischer Choral: Das war das Ergebnis einer großen kirchlichen  Vereinheitlichungs-Bewegung. Nicht in Rom, sondern im fränkischen Reich ist das musikalische Grund-Repertoire entwickelt und in der damaligen katholischen Welt fast komplett durchgesetzt worden.

Von Reinhard Kriechbaum

Zugleich mit der "Erfindung" des Gregorianischen Chorals begann auch schon ein weiterer, individuellerer Vorgang: Den Mönchen waren die Bibelzitate (auf denen der gregorianische Choral einzig fußt) vermutlich von allem Anfang an nicht genug. So trachtete man danach, illustrierende Textpassagen einzubauen in die liturgischen Texte. Nach dem Alleluja-Jubilus bot sich eine längere poetische Betrachtung an - die Sequenz war erfunden. Auch in andere Gregorianische Gesänge, in die Antiphonen zum Introitus und zur Communio, ja sogar ins Offertorium am Ostersonntag (!) hat man individuelle Auslegungen eingeschoben, die so genannten Tropen.

Solche Texteinschübe konnten schon zu respektable gesungenen Predigten ausarten: An den Introitus "In medio ecclesiae" zum Fest des Evangelisten Johannes haben gleich drei St. Gallener Mönche Hand angelegt, der berühmte Notker, sein Mönchskollege Tuotilo und ein anonymer Dichterkomponist. Alles in allem sind es elf Texteinschübe, die den eigentlichen Choralgesang aufbrechen, Gedanken ausmalen und deuten. Der Eröffnungsgesang bekommt so die stattliche Länge von siebeneinhalb Minuten. Mit den Tropen hat man die Hörer emotional packen und anschauliche Bezüge zum jeweiligen Festtag herstellen wollen.

In St. Gallen, einem der Epizentren des Gregorianischen Chorals im frühen Mittelalter, war man besonders fleißig im Dichten und Komponieren. Auf dieser CD sind Blüten aus dem 9. Jahrhundert zusammengetragen, gregorianisches Ur-Repertoire mit gleichsam "klassischen" Sequenzen und Tropen. Die Handschriften aus diesem Kloster sind bestens durchforstet, und die Semiologie (die Wissenschaft von den Neumen, der ursprünglichen Choralnotation) hat das Ihre geleistet in der Erforschung der hier entwickelten Vortragszeichen. Die St. Gallener Neumen liefern ja entscheidende Hinweise auf die Interpretation. Heutzutage kann niemand mehr ernsthaft Choral singen, ohne sich diesen Erkenntnissen - sozusagen der Originalklangbewegung der Gregorianik - zu verschließen.

Das Ensemble Gilles Binchois unter Dominique Vellard bringt eine Voraussetzung mit, die vielen anderen Choralgruppen eigentlich abgeht: Es sind fabelhaft gut geschulte Sänger, die aufführungspraktische Erkenntnisse ganz ohne Abstriche umzusetzen vermögen. Da werden Notengruppen tatsächlich in geschmeidige Koloraturen verwandelt. Überhaupt wird stark an der Temposchraube gedreht. Dominique Vellard und sein musikwissenschaftlicher Vordenker Wulf Arlt stehen für einen Zugang, der auch in gleichsam "erzählerischen" gregorianischen Kompositionen neben der selbstverständlichen Textbezogenheit den hohen gesanglichen Anspruch hervorhebt. Die Ausführung mancher Neumengruppen ähnelt der freilich erst gut ein halbes Jahrtausend später erfundenen Kunst der  Diminution. Ob wir uns Mönchs-Scholen und Kantoren im 9. Jahrhundert wirklich als Gesangskünstler mit so "geölten" Stimmen vorstellen dürfen?

Music and Poetry in St. Gallen. Sequences and tropes (9th century). Ensemble Gilles Binchois, Ltg. Dominique Velolard. Glossa/Schola Cantorum Basiliensis GCD 922503. - www.glossamusic.com

 

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