Zeit, los!
CD-KRITIK / TIMELESS
08/10/10 Time - darunter verstehen geeichte Jazzer, dass die Tempowahl haarscharf den Pulsschlag der Musik trifft. Ob ein Instrumentalist "Time" hat, entscheidet freilich nicht erst seit Erfindung des Jazz jede Wiedergabe auf Gedeih und Verderb.
Von Reinhard Kriechbaum
"Time" braucht's auch in der Alten Musik. Dafür ist die Verschränkung, die Wolfgang Katschner und seine "Lautten Compagney" mit der Kombination von Tarquinio Merula und Philip Glass gesucht haben, der allerbeste Beweis.
Aufs Erste: musikalische Seelenverwandtschaft wegen des "Baukastensystems" hier wie dort. Wie die Minimal Music des Philip Glass von der immerwährenden Repetition mit kleinen Veränderungen lebt, ist auch die Musik Merulas von der Entwicklung aus Motiv-Bausteinen heraus geprägt. Das gälte natürlich für viele Komponisten und viele Formen des 16. und 17. Jahrhunderts gälte. Man hat sich für Merula entschieden, weil seine Werke dezidiert instrumental gedacht sind (auch wenn hinter manchem Stück Madrigale stecken).
Verblüffend: Es reicht, in der einen oder anderen Passacaglia eine Melodiestimme durch ein Saxophon zu ersetzen oder in imitatorischen Stücken das Thema von einem einer schlichten Rhythmusstimme begleiten zu lassen - und schon springt einen "echte" Minimal Music an. Nicht weniger auffallend: Katschner und die Lauten Compagney brauchen in der musikantischen Grundhaltung gar nicht viel zu verändern bei ihrem tollkühnen Rösselsprüngen durch die Jahrhunderte. Es reicht, bei Merula ein wenig das Rhythmische zuzuspitzen - und auf der anderen Seite bei Philipp Glass die Feinheit der alten Instrumente nicht aufzugeben.
Glass hat in seiner Filmmusik "Powaqqatsi" mit einer schier unendlich absinkenden und dann wieder in die Höhe kletternden Saxophonmelodie experimentiert - und gleich drauf hören wir Merulas "Sonata Cromatica" und erkennen, dass eben das Spiel mit rhythmischen und melodischen Patterns etwas elementare Verwandtschaft Stiftendes sein kann. Auch wenn origineller Weise das Saxophon (stilbewusst: Karola Elssner) und die Marimba (sensibel auf die Kollegen an gezupften und gestrichenen Darmsaiten lauschend: Peter Bauer) ins frühbarocke Gespäch kommen - man begegnet einander nicht nur, sondern geht ein gutes Stück Weg miteinander …
Bei so viel "Time" verlangt der Titel der CD - "Timeless" - natürlich eine Erklärung. Wolfgang Katschners Idee dazu ist, dass Taktstriche eigentlich einengen, und sich - wie eben in der Zeit Merulas, als der Taktstrich noch nicht in Gebrauch war, manche musikantische Geheimnisse abseits des scheinbar vorgegebenen rhythmischen Gefüges öffnen. Von "Patterns", von "Standards" würden Jazzer reden. Aufführungspraktiker wissen, wie sich manchmal Muster überlagern.
Merulas Aria "Sui la cetra amorosa" in Chaconne-Technik - ein heutzutage von vielen gerne aufgeführter Gassenhauer der Epoche - ist mit ein paar Griffen nahe bei Philip Glass und passt zu den hier wundersam klangsinnliches Ausschnitten aus "Glassworks" ebenso wie zu zwei Teilen des sentimentaleren "Windcatcher". Was auch Glass-Kennern vielleicht nicht so geläufig ist: seine "Melodys for Saxophone".
Und dazwischen eben immer Merula, festgemacht an den kleinen Melodien, gedacht dann aber sehr wohl in anschaulichen größeren Bögen. Das eine macht jeweils aufs andere neugierig. Mitte Oktober bekommt die Lautten Compagney für diese Aufnahme den Echo Klassik-Preis.