Was uns der Krieg erzählt
HÖRVERGNÜGEN / BERLINER PHILHARMONIKER / PETRENKO
05/07/23 Die Berliner Philharmoniker präsentieren auf ihrem eigenen Label Editionen von Konzertaufnahmen und Gesamteditionen von Sinfonien. Ganz neu: Dimitri Schostakowitsch monumentale Sinfonien Acht bis Zehn unter Kirill Petrenko.
Von Andreas Vogl
Die Streamingplattform der Berliner Digital Concert Hall ist einer der erfolgreichsten klassischen Streamingdienste. So entstanden bereits ein beachtlicher Bruckner-Zyklus etwa mit Seiji Ozawa, Bernard Haitink, Herbert Blomstedt, Christian Thielemann, Mariss Jansons, Parvo Järvi und Simon Rattle. Ebenso erschienen alle Mahler-Sinfonien unter Kirill Petrenko, Claudio Abbado, Andris Nelsons, Gustavo Dudamel, Bernard Haitink und anderen. Weiters gibt es Schubert unter Nikolaus Harnoncourt, Sibelius und Schumann unter Simon Rattle, die Beethoven Klavierkonzerte mit Mitsuko Uchida und die viel gelobten Passionsoratorien von Bach in den Ritualisierungen durch Peter Sellars unter Simon Rattle. Alles in HD Video und Audio Qualität. Die Berliner Philharmoniker sind somit audio-technisch hoch modern und gehen mit der Zeit.
Bisher machte sich der aktuelle Chefdirigent der Berliner Philharmoniker Kirill Petrenko rar mit CD Aufnahmen und Mitschnitten seiner Konzerte. Das Bayerische Staatsorchester hat immerhin, wie bereits hier schon einmal besprochen, Mahler’s Siebte herausgebracht. Mit den Berlinern, die ja ab 2026 wieder zu den Salzburger Osterfestspielen zurück kommen werden, scheint es nun, zwangsweise, öfter Veröffentlichungen des scheuen und genialen Maestros zu geben.
Ganz neu: Dimitri Schostakowitsch monumentale Sinfonien Acht bis Zehn, entstanden in der Berliner Philharmonie noch zu Lockdown Zeiten als CD und auch Full HD Video Bluray Mitschnitt. Veröffentlicht in einem wunderschönen Hardcover Format Buch gestaltet mit Fotografien des deutschen Künstlers Thomas Demand und auf der Bluray zusätzlich mit einem interessanten Interview mit Petrenko über seine Beziehung zu Schostakowitsch’ Musik und Wirkung.
Die drei Sinfonien Acht bis Zehn stehen, wie fast das ganze Schaffen Schostakowitsch’, in unmittelbarem Zusammenhang mit der zeit-politischen Geschichte Russlands und der Sowjetunion und entstanden noch während und nach dem Zweiten Weltkrieg, erzählen von dessen Schrecken und auch den folgenden stalinistischen Jahren. Sie sind musikalisch unterschiedlich gearbeitet, beinhalten aber jeweils unmittelbar die typischen dramatisch-tiefgehenden Elemente des Schmerzes und der Aggression, aber auch die ironisch-groteske Färbung des regimekritischen Ausdrucks. Petrenko bezeichnet die Achte als „unglaubliches Seelendrama“ eines unterdrückten Komponisten in schwierigen Zeiten des Krieges - der Aktualitätsbezug ist frappant. Sie zählt, 1943 uraufgeführt, mit der Siebten und Neunten zu den sogenannten „Kriegssinfonien“ von Schostakowitsch. Allerdings weist die Neunte, als vermeintliche Siegessinfonie nach 1945, durch ihre klassizistischen Elemente und den ironischen Unterton bereits unverkennbar provokante Töne auf, welche dem Stalin-Regime zu einer erneuten Missachtung und Verfolgung des Komponisten veranlasste. Erst durch die, mit Stalin endgültig abrechnende, Zehnte Sinfonie von 1953 nach dem Tod des Diktators konnte Schostakowitsch mit diesem „größten Befreiungsschlag in seinem künstlerischen Schaffen“, so wiederum Petrenko, wieder aufatmen.
Die Berliner Philharmoniker spielen diese Musik so brutal, so bezwingend und mitreissend. Hart in den Bläsern, süffig und markant in den Streichern, das Schlagwerk bis zum Äussersten ausgereizt. Und Petrenko versteht die Klangmassen derart zu bändigen und Wendungen in der Musik so anzusteuern, dass man von Beginn bis Ende beim Anhören gebannt auf der Sofakante sitzt. Diese Interpretation kann absolut im Vergleich mit den großen Dirigenten-Vorbildern von Yevgenii Mravsinky bis Mariss Jansons bestehen.
Edition Berliner Philharmoniker. Schostakowitsch Sinfonien 8-10. Berliner Philharmoniker, Kirill Petrenko. BPHR 220421 – www.berliner-philharmoniker-recordings.com