Voll all der guten Dinge
CD-KRITIK / GOTHIC VOICES
30/10/23 Terribilis est locus iste, die Wiege der Renaissance als ein furchtgebietender Ort? Wenn Julian Podger, derzeit der Vordenker der Gothic Voices, die Huldigung auf die Stadt Florenz ausgerechnet mit diesem gregorianischen Gesang beginnt, will er das Wort „terribilis“ in seiner Mehrdeutigkeit erfasst wissen.
Von Reinhard Kriechbaum
Ehrfurcht einflößend war das Florenz der in alle Künste machtvoll hereinwehenden Renaissance allemal. Mancher Gast in dieser Stadt, von weit her angereist, mag sich dem Sog einer völlig neuen humanistischen Welt nicht haben entziehen wollen: J'ars de desir, ich brenne vor Begierde, hat Alexander Agricola mit nicht geringer Leidenschaft singen lassen. Seine dreistimmige Chanson mag an eine bestimmte Frau gerichtet gewesen sein, aber der Text passt genau so gut als Allegorie auf die so vielfältig anregende Stadt.
Florenz war ein Ort mit Sogkraft weit in den francoflämischen Raum, von wo wesentliche musikalische Impulse in die italienische Metropole der Renaissance kamen. Diese Kulturverbindung wird auf dieser CD der Gothic Voices ausgeleuchtet. Mit Chansons und Motetten niederländischer Meister, vornehmlich aus zwei Florentiner Handschriften. Werke von Guillaume Dufay geben den Rahmen für literarisch und musikalisch vielfältige Perspektiven vor. Gleich ein delikater Richtungswechsel am Beginn, wenn der ominöse furchterregende Ort in Mirandas parit haec urbs gleich näher beschrieben wird als einer mit den anziehendsten jungen Mädchen „summo forma nitore“, also mit höchster Eleganz.
Endpunkt dieser Florenz-Huldigung ist jene prachtvolle Motette, die man 1436 für die Weihe des Doms bei Dufay bestellt hat, Nuper rosarum flores. Diese fußt ihrerseits auf der Choralmelodie Terribilis es locus, womit ein suggestiver Bogen zum Beginn geschlagen wird. Die zehn Chansons und fünf Motetten im zeitlichen Umfeld von Dufay, Ockeghem und der nachfolgenden Generation (Antoine Busnois, Loyset Compére, Johannes Tinctoris, Alexander Agricola) bestätigen: Die Werke der Niederländer waren stark nachgefragt in der Stadt am Arno, und vieles davon lässt sich, auch wenn's in Form von Liebesliedern daherkommt, als Huldigung an die Metropole und den kulturellen Geist dort lesen. Florenz war eben De tous biens plaine, voll all der guten Dinge, wie es Hayne van Ghizeghem in der gleichnamigen Chanson beschreibt.
Klug die dramaturgische Zusammenstellung, wechselnd zwischen Weltlichem und Geistlichem, zwischen Ein- bis Fünfstimmigem. Einige Chansons sind zu Sologesängen eingekocht, da assistiert Andrew Lawrence-King mit seinen die Stimmführung anschaulich verdeutlichenden Beiträgen auf der glasklar tönenden Gotischen Hafe. Das ist alles undogmatisch umgesetzt, mit jener Stilkundigkeit, wie sie die Gothic Voices seit je her auszeichnet. Für diese Vokalisten ist solche Musik ja quasi das tägliche Brot, und genau so wirkt die Interpretation, getragen von einem hohen Grad an Selbstverständlichkeit. Jede Melodiefloskel bekommt da genau den Raum, den sie zum ruhigen Aufblühen braucht. Nichts wirkt „gemacht“, oder gar aufgemotzt. Die Musik atmet und fließt, und das gilt auch für die paar Choralstücke. Kann gut sein, dass Gregorianik in der frühen Renaissance tatsächlich so geklungen hat, mit zeitlich schon recht fernem, aber noch nicht ganz erloschenem Gefühl für die einst in Neumen festgeschriebenen Ursprünge.
The Splendour of Florence with a Burgundian Resonance. Gothic Voices, with Andrew Lawrence-King – www.linnrecords.com