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Das Selbstbewusstsein von Outlaws

CD-KRITIK / LOS TEMPERATMENTOS

13/09/21 Die interkontinentale Grenzgängerei drängt sich natürlich auf für einen wie den Cellisten und Ensembleleiter Néstor Fabián Cortés Garzón: Schon während seiner Cello-Ausbildung in seiner Heimat Kolumbien hat er mit der historischen Aufführungspraxis geliebäugelt und diese dann in Bremen studienmäßig vertieft.

Von Reinhard Kriechbaum  

In die wohl erworbene europäischen Sicht auf die Dinge bringt er große Repertoirekenntnis jener Barockmusik hispanischer Prägung mit, die als ein Erbe der Kolonialzeit für die Muysikhistorie in Südamerika von nicht geringer Bedeutung ist. Sie wird im „alten“ Europa nach wie vor eher als Randerscheinung wahrgenommen. Und schließlich ist Néstor Fabián Cortés Garzón mit Musizierlust und -eigenarten der indigenen Bevölkerung seiner Heimat vertraut. Mit seinem 2009 in Bremen gegründeten Ensemble Los Temeramentos, mit dem er so gerne Brücken zwischen Europa und Südamerika schlägt, schöpft er also aus einem reichen Fundus aus Geschichte und lebendiger Musizierpraxis.

Der Name der Gruppe kommt nicht von ungefähr, und so trägt diese „jungen Wilden“ seit über zehn Jahren auch die Sympathie des europäischen Publikums. Mit ihrer neuesten CD, Entre dos tiempos, lösen sie diesbezügliche Erwartungen wieder voll ein. Zwischen den Zeiten, damit meint Néstor Fabián Cortés Garzón nicht explizit musikhistorische Umbruchsituationen, sondern er zielt auf Komponisten und Musikstile hin, die sich eben nicht dem jeweiligen Zeitgeist bei- oder unterordneten. Wenn man will: Hier ist Musik assoziativ und individuell verknüpft, deren Schöpfer den zeitgenossen möglicherweise als „Outlaws“ gegolten haben. Die Violoncellosonate IV von Jean-Baptiste Barrière (1707-1747) mag an Gamben und zurückhaltende Elegance gewohnte Höflinge in Paris die Haare zu Berge haben stehen lassen. Die Überfülle an Verhaltewnsauffälligkeiten hat Quantz später als „Stylus Phantasticus“ beschrieben. Auch der Geiger Francesco Maria Veracini, der auch in Dresden wirkte und dort so sehr gemobbt wurde, dass er einen Suizidversuch unternahm (er überlebte den Fenstersturz), war ein Polarisierer. Tomoe Badiarova lässt in der Sonata XII die Finger laufen – und man muss angesichts des Undogmatischen in dieser Musik lächeln darüber, dass der Komponist seine Werksammlung op. 2 ausgerechnet Sonate accademiche betitelte. Un-Akademischeres ist schwerlich denkbar. Auch in dieser Interpretation nicht, aber das gilt ohnehin für das Ensemble Los Temeramentos als Ganzes.

Solche Stücke also sind hier mit lateinamerikanischem Barock zusammen gebracht, wobei Néstor Fabián Cortés Garzón seine Kolleginnen und Kollegen mutig und ausgreifend improvisieren lässt. Aus einigen kurzen Instrumental- und Vokalstücken des peruanischen Codex Martínez Compañón hat er auf diese Weise eine Suite indigena geformt. Da taucht mehrmals die lokaltypische Liedform Cachua auf. Nur so viel dazu: Die Indianer haben sich von den katholischen Eroberern nicht alles so ohne weiteres einreden lassen. Nicht nur zwei Weihnachtslied-Beispiele auf dieser CD bestechen durch einen quicklebendigen, fast subversiven Sprach- und Stilmix.

Gerade vor diese Weihnachtslieder stellt Los Temperamentos als einziges wirklich bekanntes Stück Merulas Canzonetta Spirituale sopra alla nanna – und die passt als Radikal-Passcaglia über ein Zweiton-Thema (nur ein Halbtonschritt) erstaunlich gut in das Sammelsurium an Unangepasstem.

Entre dos tiempos: Los Temperamentos, Ltg. Néstor Fabián Cortés Garzón. arcantus, arc 20023 – www.arcantus.de

 

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