Vom Misstrauen und der größeren Hoffnung
GROSSER KUNSTPREIS DES LANDES / ILSE AICHINGER
10/11/15 Der Große Kunstpreis des Landes Salzburg 2015 geht an die österreichische Schriftstellerin Ilse Aichinger. Sie wurde dieser Tage 94. Jahre alt. Der Anerkennungspreis für das literarische Gesamtwerk eines Autors mit besonderem Salzburg-Bezug wird im Dreijahres-Rhythmus abwechselnd für bildende Kunst, Musik und Literatur vergeben.
Ilse Aichinger, die von 1963 bis 1984 in Großgmain/Salzburg lebte, ist nach Gerhard Amanshauser, Walter Kappacher, Karl-Markus Gauß und Peter Handke die erste Autorin, die den mit 15.000 Euro dotierten Großen Kunstpreis des Landes erhält. Am 9. Dezember wird Ilse Aichingers Tochter, Mirjam Eich, den Kunstpreis stellvertretend für ihre Mutter entgegennehmen, da die 94 Jährige aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr anreisen kann.
Die unabhängige Jury - Petra-Maria Dallinger (Direktorin Adalbert-Stifter-Institut), Tomas Friedmann (Leiter Literaturhaus Salzburg) und Günther Stocker (Institut für Germanistik, Universität Wien) - begründete ihre Wahl folgendermaßen: „Die Bedeutung von Ilse Aichinger ist in der deutschsprachigen Literatur unbestritten. Ihr zeitloses, von allen literarischen Moden unbeeindrucktes Gesamtwerk mag schmal sein – und doch ist es gewaltig. Bereits 1945 verfasste sie einen Text, in dem das Wort Konzentrationslager fällt, zum ersten Mal in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Mit ihrem Essay 'Aufruf zum Misstrauen' wandte sie sich ein Jahr später gegen Geschichtsverdrängung und appellierte an kritische Selbstanalyse. Ihr einziger, autobiographischer Roman 'Die größere Hoffnung' (1948) bildete einen Meilenstein in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Für ihr präzis-poetisches Schreiben, ihr radikal-zeitloses stilbildendes Gesamtwerk und für ihre kritisch-humane Haltung soll die Dichterin Ilse Aichinger mit dem Großen Kunstpreis des Landes Salzburg 2015 ausgezeichnet werden. Salzburg war für Ilse Aichinger seit ihrer Kindheit ein wichtiger Bezugspunkt, hier schrieb sie Lyrik und Kurzprosa, Szenen und Hörspiele.“
Ilse Aichinger kam am 1. November 1921 als Tochter eines Lehrers und einer jüdischen Ärztin in Wien zur Welt. Die Familie lebt bis zur Scheidung der Eltern 1927 in Linz, dann kehrte die Mutter mit ihr und der Zwillingsschwester nach Wien zurück, wo Ilse meist bei ihrer Großmutter bzw. in Klosterschulen lebte. Bereits in ihren ersten veröffentlichten Texten – „Das vierte Tor“ (1945), „Aufruf zum Mißtrauen“ (1946) – zeigt sich die für Aichingers Schreiben typische sprach- und gesellschaftskritische Haltung und die radikale Hinterfragung der eigenen Existenz. 1948 erschien ihr einziger Roman „Die größere Hoffnung“, die Geschichte des halbjüdischen Mädchens Ellen im Wien der Kriegsjahre. Für ihre Erzählung „Spiegelgeschichte“ erhielt sie 1952 den renommierten Preis der Gruppe 47. 1953 erschienen ihr erstes Hörspiel „Knöpfe“ und der Erzählband „Der Gefesselte“. Im selben Jahr heiratet sie den Dichter Günter Eich und zog mit ihm nach Lenggries, wo die Kinder Clemens (1954) und Mirjam (1957) geboren wurden. Ab 1963 lebte die Familie in Großgmain.
Hier entstanden bei zunehmender Verknappung und Präzisierung der Sprache auch eigenständige, neue literarische Formen wie die Dialoge „Zu keiner Stunde“ oder der nach Günter Eichs Tod (1972) entstandene Band „Schlechte Wörter“. 1984, nach dem Tod ihrer Mutter, zog Ilse Aichinger für vier Jahre nach Frankfurt, seit 1988 lebt sie wieder in Wien. Im Herbst 2000 begann ilse Aichinger, regelmäßig Kolumnentexte für den „Standard“ und die „Presse“ zu schreiben, die ihrer Leidenschaft fürs Kino und ihrem Sinn für die Absurditäten der Welt entspringen. (Landeskorrespondenz)