Rasender Rückblick. Unglücklicher Ungar
RAURISER LITERATURTAGE / LESUNGEN HELL UND ROSEI
09/04/21 Was könnten Verkehrsschilder, abhanden gekommene Ziegen, melancholische Magyaren und die Suche nach dem Glück in der modernen Welt denn miteinander zu tun haben? Ganz einfach: Die Rauriser Literaturtage!
Von Othmar Felix Christian Hofer
Bekanntlich feiern die Rauriser Literaturtage heuer ihren Fünfziger. Leider zeigen sich die Feierlichkeiten zum sich nunmehr über eine halbe Lebenspanne ausdehnenden Bestehen des Kulturfests, wie so viele andere, von den pandemiegeschuldeten Beschränkungen überschattet. Der auf den ersten Blick wenig erfreulichen Situation stellten sich am Donnerstag (8.4.) zwei altgediente Veteranen entgegen.
Den Anfang machte Bodo Hell, welcher in den 70er-Jahren als erster Dichter überhaupt den Rauriser Literaturpreis in Empfang nehmen durfte. Und das auf geradezu frappierend kreative Weise. Der passionierte Senner und ausgebildete Organist mit der charakteristischen krempenlos-schwarzen Kopfbedeckung hielt dem Publikum gleich zu Beginn seines Auftrittes eine kleine Verkehrstafel entgegen, welche ungemein aufschlussreiche Informationen über die Straßen- und Parkverhältnisse im Rauriser Ortskern bot.
Zu den optischen gesellte sich gleich darauf eine Vielzahl an akustischen Reizen, denn der Schriftsteller wurde von den Musikern Fritz Moßhammer und Peter Angerer, welche ebenfalls Teile des Texts vortrugen, mittels diverser Instrumente unterstützt. Doch damit nicht genug, zeitweise griff sogar der Autor selbst zur Maultrommel.
Der sprachliche Teil des Auftritts bot dem Zuhörer einen eindrucksreichen Parforceritt durch die alles andere als langweilige Geschichte der Rauriser Literaturtage. In dem, übrigens in der Literaturzeitschrift SALZ nachlesbaren, Text begegnen einem sabotierte Kirchentüren, verschwundene Ziegen, die Nöte eines innerstädtischen Fahrradfahrers oder geschlechterbezogene Analysen zur Symbolik von Verkehrstaferln.
Die in den Bann ziehende schiere Fülle an stets wechselnden Eindrücken ließ die Zuseherinnen und Zuseher beinah vergessen, dass sich alles nur auf dem Bildschirm zutrug. Die virtuelle Komponente stellt sogar einen nicht außer Acht zu lassenden Vorteil dar, denn so ist es möglich, diese mitunter verwirrende Hatz durch vergangene Geschehnisse und ausufernde Assoziationen nochmals in aller Ruhe zu beschreiten.
Weniger lautstark, doch mindestens ebenso interessant ging es danach mit Peter Rosei, der den Rauriser Literaturpreis 1973 erhielt, weiter. Nach einem aufschlussreichen Gespräch über die literarische Auseinandersetzung mit der vermeintlich idyllischen Provinz, die Auswirkungen modernen Wirtschafts- sowie Konkurrenzdenkens auf den Literaturbetrieb und die Seitenzahl der Werke des Autors, las derselbe einen Abschnitt seines neuesten Buches Das Märchen vom Glück. Die wohl – insbesondere in diesen Tagen – für viele Menschen herausfordernden Gezeitenwechsel zwischen Glück und Unglück fasst die Figur des ungarischen Frisch-Warenverkäufers András in melancholischer Rückschau zusammen: „Mein Leben war schön, dann weniger, dann nicht mehr.“ Die Lesungen beider Autoren bewiesen auf eindrucksvolle Weise, dass sich Kreativität und Wirkkraft literarischen Schaffens letztlich nicht von den etwaig ungünstigen Außenbedingungen einbremsen lassen.