Widerspruch gegen das Vergessen
LITERATURFEST SALZBURG / FLORJAN LIPUS
24/05/18 „Seine Epik ist ein gegliederter Aufschrei. Die Sprache knirscht mit den Zähnen und gleichzeitig singt sie.“ Das sagt Peter Handke über den in Kärnten geborenen auf Slowenisch schreibenden Autor Florjan Lipuš. Sein jüngstes Buch Schotter ist vor zwei Monaten erschienen bei Jung und Jung, „ein Klagelied im Widerspruch gegen das Vergessen.“ - Hier der Text aus dem Programm-Booklet zum Literaturfest Salzburg.
Von Florjan Lipuš
Es könnte nicht schlimmer kommen, wenn sie ihr Leben lang jedem muttersprachlichen Wort aus dem Weg gegangen wären, am Ende aber ist jedes Wort, das sie über die Lippen bringen, nur noch ein muttersprachliches. Die Gedanken kommen noch auf die alte, gültige Weise, in die eingeübte Sprache gekleidet, aber wenn sie sie laut äußern, erklingen sie automatisch, unwillkürlich in der verhassten Sprache. Sie lassen sich nicht mehr umschalten, und stellte man sie auch auf den Kopf. Am Totenbett haben sie die Worte, die letzten auf dieser Welt, die Abschiedsworte, in ein würdiges Gewand gekleidet, so scheint es ihnen. Doch sobald sie sie äußern, sehen sie, dass sie in ärmliche Lumpen gekleidet sind. Wie peinlich für den Menschen und für alle, die den Sterbenden gekannt haben, mit ihm gelebt und Geschäfte gemacht haben. Verwundert stehen die Angehörigen daneben und starren einander an, nicht wissend, woher diese Worte kommen, wie sie in diesen Menschen hineingelangt sind, der bisher nicht nur von oben auf sie geblickt hatte, sondern um nichts in der Welt ein derartiges Wort in Gegenwart anderer geäußert hätte. Sie sind verwirrt, die Angehörigen verstehen nicht, so etwas haben sie nicht erwartet, haben sie noch nie gehört, weder in seiner Nähe noch aus seinem Mund. Ist ein Wunder geschehen und hat am Ende gar ein guter Geist den auserwählten Menschen gestreift?
Wunder geschah keines. Wahr ist, auch sie selber haben schon gehört, dass sich solche Dinge ereignen, denn im Todeskampf sterben die letzten Flocken des Gehirns ab und daraus schälen sich die Bodensätze, unter denen die gesunden, noch ursprünglichen letzten Zellen verborgen sind. Alles, was sich darauf festgesetzt hat, wird weniger, alles Gekünstelte löst sich auf, und zum Vorschein kommt der wahre, ursprüngliche Mensch. Wie den leibhaftigen Teufel fürchten die umstehenden Zeugen, dass diese schreckliche Geißel auch sie treffen könnte, nur allzu leicht kann es geschehen, dass diese Schande auch ihnen zustößt und die ursprüngliche Sprache auch sie in ihrer letzten Stunde heimsucht.
Aus: Florjan Lipuš: Schotter. Jung und Jung 2019. Aus dem Slowenischen von Johann Strutz
Mit freundlicher Genehmigung des Autors, des Verlags und des Literaturfestes Salzburg