Ich will ja nur Fragen stellen
RAURISER LITERATURTAGE / DONNERSTAG / HEIMALM
06/04/18 Jugendliche Revolte; von der Kindheit im zerstörten Wien bis zur zerstörten Kindheit in Kathmandu; vier unterschiedliche Stimmen, aber ein Thema: Kindheit in der Ausnahmesituation.
VON GABRIELA TOMASCHKO UND ANNA GRAF
„Das Gespenst der Revolte ohne Revolution“ nennt Anna Estermann in ihrer Laudatio die Gefahr, „Protest als narzisstische[n] Selbstzweck zu betreiben und Aktionen des Widerstandes als spannendes Abenteuer zu leben“. Damit benennt sie das Kernthema des Textes von Förderungspreisträger Florian Gantner, der am Donnerstag (5.4.) Nachmittag das Publikum mit seinem lebhaften und unterhaltsamen Vortrag fesselte. Sprayen als Widerstand gegen ständige Überwachung entlarvt sich in Gantners Text als Sackgasse, wenn die Figuren erkennen, dass man selbst Teil des Systems sein müsse, um sich dagegen wehren zu können. Der Abend fand auch heuer traditionell auf der Heimalm statt und wurde musikalisch von Bernadette Ober an der Zither umrahmt.
Karin Peschkas „Autolyse Wien“ ist keine Wohlfühlliteratur. Die vier gelesenen Auszüge aus ihrem Text setzen im postapokalyptischen Wien an, wo ihre Figuren erst beginnen, sich aus sich selbst hinauszuwagen und aufeinander zu zubewegen. Dabei kann sie auf Bilder eines kollektiven Gedächtnisses zurückgreifen: Dresden, Aleppo - Orte, die die Brüchigkeit der scheinbaren Ordnung vorführen.
Sie erzählt mit großer emotionaler Distanz Momentaufnahmen vom „Wiener Kindl“, dem in der völlig zerstörten Stadt alles genommen wurde und dem nur ein Hund zum Begraben bleibt, von dem Kinderkörper, der sechs Männern gehört, einer Tochter, der nur noch ihr Lachen geblieben ist und zwei Jugendlichen, deren Leben sich in Zeitlosigkeit verliert.
Die Autorin liebt Horrorfilme, überlegt sich beim Spazieren gehen, welche Gebäude „Zombie-sicher“ sein könnten und verwandelt ihre Zerstörungsphantasien in literarische Kunst.
Anais und Bruno, zwei von ihrer alkoholkranken, lebensunfähigen Mutter vernachlässigte Kinder, stehen im Mittelpunkt des Debuts „Immer ist alles schön“ von Julia Weber. Sie sucht in ihrem Text nicht nach Lösungen, sondern will Fragen stellen. Oft bleiben sie unbeantwortet. Die Autorin entwickelte ihre Erzählstimme ausgehend von der Tochterfigur, die sich durch keine typische Kindersprache, sondern durch eine sinnliche und vielstimmige Kunstsprache ausdrückt.
Auf sprachlicher Ebene schließt hier Benjamin Lebert mit seinem Roman „Die Dunkelheit zwischen den Sternen“ an. Durch die Augen eines Erwachsenen ebnet er drei nepalesischen Kinderstimmen den Weg. Der Autor nimmt dabei die Perspektive von Jugendlichen ein, die keine uns vertrauten Lebensentwürfe in sich tragen und blickt dabei nicht auf seine Protagonisten, sondern durch ihre Augen auf uns. Die Erzählweise, so Lebert, soll die Grenzen der ihm bekannten Welt überschreiten. Seine sanfte Stimme unterstrich die bildreiche Sprache und ließ den einen oder anderen Zuhörer die Augen schließen.