Unbeschönigt ehrlich – aber diskret
LESEPROBE / WODIN / ALTER, FREMDES LAND
12/09/14 Irgendwann war das Alter nicht länger eine kaum beachtete Selbstverständlichkeit, sondern drängte sich in den Mittelpunkt vom Rest ihres Lebens. Die vertraute Welt beginnt sich vor Lea - Schriftstellerin 63 allein lebend in Berlin – zu verlieren. Auftut sich die trügerische Welt des Internets… „Alter, fremdes Land" von Natascha Wodin ist ein Roman "über die Schrecken des Alters und den Versuch, ihnen zu entkommen“. – Hier eine Leseprobe.
Von Natascha Wodin
Zuerst hatte sie geglaubt, die Schwäche, mit der sie eines Morgens aufgewacht war, sei eine der ganz gewöhnlichen kleinen Unpässlichkeiten, die kamen und genauso schnell wieder gingen. Mal hatte man einen guten Tag, mal einen schlechteren, das war normal. Aber auch am nächsten Morgen, sie hatte lange und tief geschlafen, fühlte Lea sich nicht besser, und eine Woche später immer noch nicht. Fast alles, was bisher beiläufig und fast wie von selbst gegangen war, forderte jetzt zwar keine große, aber doch fühlbare Kraftanstrengung, das Auf- stehen vom Bett oder von einem Stuhl, das Ankleiden, selbst das Zähneputzen und das Kämmen. Bisher hatte sie ihre Wohnung immer an einem Tag geputzt, jetzt musste sie die Arbeit auf zwei Tage verteilen, weil sie es am Stück nicht mehr schaffte, nach spätestens zwei Stunden kraftlos aufs Sofa sank. Ging sie hinunter auf die Straße, um etwas zu erledigen, fühlte sie sich schon zwei Häuser weiter so erschöpft, dass sie am liebsten wie- der umgekehrt wäre. Der Weg bis zu den kleinen Geschäften vor ihrer Haustür war weiter geworden, die Tasche mit den Einkäufen schwerer, die Treppe zu ihrer Wohnung höher. Es war, als müsse sie bei jedem Schritt irgendeinen unsichtbaren Widerstand überwinden, eine rätselhafte Kraft, die sich ihr ständig von außen entgegenstellte und sie an der Bewegung hindern wollte.
Lea war in ihrem Leben nie ernsthaft krank gewesen, aber seit jeher hatte sie eine labile Gesundheit. Ihr Kör- per war launisch, unberechenbar, mit unerschöpflicher, geradezu poetischer Fantasie brachte er Symptome hervor, für die es selten eine medizinische Erklärung gab. Vermutlich war auch die rätselhafte Schwäche, die sie befallen hatte, so eine Laune ihres Körpers, ein Symptom, das ein Phantom bleiben würde, wie immer bisher. Sie konnte sich nicht entschließen, einen Arzt aufzusuchen, zumal sie den Verdacht hegte, dass die Sache mit der Medizin ein Missverständnis war. Sie gab sich allmächtig, aber in Wirklichkeit beherrschte sie nur die Grundrechenarten ihrer Kunst. Über die komplexen Vorgänge im menschlichen Körper schien die Medizin noch weniger zu wissen, als uns die Mondlandung über das Universum offenbart hatte. Die Ärzte gaben ihre Ohnmacht nicht zu, und die Patienten waren froh da- rum. Es blieb ihnen die Erkenntnis erspart, dass wir al- lein waren mit unserem Körper, dass wir in einer dunklen, unbegreiflichen, wenig beeinflussbaren und zuletzt immer rettungslosen Materie wohnten.