Der wurde nie gedreht!
LESEPROBE / KEHLMANN / LICHTSPIEL
23/11/23 Der Regisseur G. W. Papst flieht vor den Nazis nach Hollywood, hat keinen Erfolg, kehrt in die „Ostmark“ zurück – und muss sich, um zu überleben, heillos verstricken lassen... Daniel Kehlmann präsentiert seinen neuen Roman Lichtspiel auf Einladung des Literaturhauses Salzburg am 27. November im Marionettentheater. „Kehlmanns Roman über Kunst und Macht, über Schönheit und Barbarei ist ein Triumph.“ – Hier eine Leseprobe.
Von Daniel Kehlmann
«Aber wenn er einen Befehl gab, haben alle gehorcht. Etwas anderes fiel einem gar nicht ein. Außer wenn seine Mutterda war. Ich hab sie nur einmal gesehen, sie kam zu Besuch, als wir Komödianten drehten, er sah sofort aus wie ein Kind. Ein paar Monate später ist sie gestorben.» Ich muss schlucken. Mein Hals ist trocken, die Couch unter mir scheint langsam durch den Raum zu schwimmen. «Er hatte eine eigene Theorie vom Filmschnitt. Dass ein Schnitt immer durch eine Bewegung begründet sein muss, sodass ein nie abreißender Fluss von der ersten Einstellung bis zur letzten entsteht. Als ich später selbst Regie geführt habe, habe ich bemerkt, dass es in der Praxis kaum … » Nein, ich bin zu weit gegangen, so kann man hier nicht reden. «Von der Greta Garbo hat er oft gesprochen!», rufe ch. «So eine schöne Frau! Und von der Louise Brooks, die kennt man heute kaum mehr, aber damals war sie ein fast so großer Star wie die Garbo. Die hat er auch entdeckt.»
«Ach ja! Die schönen Frauen!» Heinz Conrads lacht erleichtert. Er legt wieder eine Karte nach hinten und liest: «Und bei eurem nächsten Film, Der Fall Molander, da hat der große Paul Wegener die Hauptrolle gespielt?»
«Welchem?»
«Bei eurem nächsten Film», liest er von der Karte. «Der Fall Molander. Da hat Paul Wegener die Hauptrolle gespielt.»
«Den gibt es nicht.»
«Den Paul Wegener?»
«Diesen Film. Gibt es nicht, der wurde geplant, aber nie gedreht.»
Ein paar Sekunden ist es still, dann sagt Heinz Conrads: «Doch, doch, hier steht … Gedreht ist er schon worden. Es hat ihn nur keiner gesehen, er ist dann verloren gegangen.»
«Nicht gedreht.»
Heinz Conrads blickt irgendwohin hinter der Kamera. «Also mir hat man gesagt, ihr habt ihn fertig gedreht, Anfang fünfundvierzig in Prag. Unter schweren Bedingungen, in den letzten Kriegswochen, aber dann ist halt das Material verschwunden.» Er blickt mit schmalen Augen auf seine Karte. Es ist offenbar die letzte. Er dreht sie um, sieht hilflos auf ihre Rückseite.
Nicht gedreht!», rufe ich. «Verdammt! Es ist nicht wahr, es gibt ihn nicht! Es ist ein Irrtum! Eine Lüge.»
«Wie bitte?»
«Eine Lüge!»
Heinz Conrads sieht auf seine letzte Karte, dann auf den jungen Mann mit der Brille, dann noch einmal auf die Karte. «Franzl, du wirst dich doch an deinen Film erinnern.»
«Franzl, du wirst dich doch an deinen Film erinnern.»
«Der wurde nie gedreht!»
Heinz Conrads runzelt die Stirn so stark, dass sich sein Gesicht nach innen zu krümmen scheint. Da trifft mein Blick den des jungen Mannes mit der Brille. Er sieht nicht seinen Chef an, sondern mich, ganz aufmerksam und direkt, mit einem dünnen, starren Lächeln.
Ich sehe auf den Bildschirm. Sehe mich selbst, wie ich irgendwohin sehe – natürlich, der Monitor ist nicht die Kamera, man muss in die Kamera sehen, um sich selbst vom Monitor aus anzusehen, nur dass man sich ja dann nicht sehen kann, weil man in die Kamera sieht, nicht auf den Monitor. Und jetzt zeigt der Monitor, obwohl er ja mich zeigt, zugleich etwas anderes, und um es nicht zu sehen, schließe ich die Augen, aber das hilft nicht, und ich sehe sie noch: schwarzweiße Menschen in einem Konzertsaal. Von hoch oben sehe ich auf sie herab, als ob ich flöge, ein Kristallluster strahlt, ich sitze neben der Kamera auf dem Arm eines langen Krans, sie blicken alle nach vorne, denn hinaufsehen dürfen sie nicht.
Ich öffne die Augen, aber ich sehe es immer noch, sehe so deutlich wie je, so wie wir es einst auf dem kleinen Bildschirm gesehen haben, als Pabst neben mir den Film geschnitten hat. Und zugleich sehe ich es von oben, vom weit ausschwingenden Kran, an dem ich hänge, während Pabst unten durchs Megafon dirigiert, weiter nach vorne, jetzt Schwenk nach rechts, zum Podium, weiter, wo der Schauspieler steht und geigt!
«Wurde nicht gedreht! Ihre Redaktion hat schlecht gearbeitet! Sie irren sich! Kam nie zustande!»
Die Menschen unter mir. Sie dürfen nicht heraufsehen. Wenn einer es täte, würde es alles ruinieren. Entscheidend ist, dass die Soldaten nicht ins Blickfeld kommen, denn die Einstellung muss heute abgedreht sein, und da tritt Heinz Conrads auf mich zu: «Lieber Franzl, so eine Freude, dass du hier warst, leider ist unsere Zeit auch schon wieder vorbei!» Mir ist, als holte er zum Schlag aus, und ich hebe die Hände vor mein Gesicht, aber er dreht sich zur Kamera, das Rotlicht blitzt, der Monitor zeigt sein Gesicht so groß, dass die Nasenlöcher wie Krater erscheinen. «Guten Abend, die Mad’ln», sagt er in singendem Ton, «servus, die Buam, danke, liebe Gäste, bleiben Sie alle recht schön gesund!» Blechern klimpernde Klaviermusik aus den Lautsprechern, das Rotlicht erlischt, auf dem Monitor formen wirbelnde Buchstaben die Worte Was gibt es Neues am Sonntag mit Heinz Conrads.
Offenbar ist es vorbei. Der junge Mann mit der Brille, der mich die ganze Zeit über unverwandt angesehen hat, kommt auf mich zu.
«Der Nachspann wird jetzt dreimal zur Gänze durchlaufen. Wir mussten früher aussteigen. Das ist noch nie passiert. Da können Sie stolz sein.»
«Ich hoff, dir geht’s bald besser», sagt der bärtige Mann in Lodenjacke neben mir. «War schön, dich wiederzusehen, Franzl.»
«Dich auch», sage ich, weil mir nichts anderes einfällt.
«Habt ihr Molander wirklich nicht gedreht? Ich dachte immer, der wäre noch fertig geworden, aber als dann der Aufstand in Prag begann – »
Ich wende mich ab und strecke meinen Arm aus, um dem jungen Mann, dessen Name mir plötzlich einfällt, er heißt Rosenkranz, und aus irgendeinem Grund gefällt mir das nicht, zu bedeuten, dass er mir aufhelfen soll. Er tut es. In kleinen Schritten gehen wir zur Tür.
Aber Heinz Conrads versperrt uns den Weg. Sein Gesicht ist verzerrt vor Wut.
«Auf Wiedersehen, lieber Heinzi», sage ich.
«Kriech in dein Scheißloch und verreck.»
Ich starre ihn an. Für einen Moment meine ich, ich hätte mich verhört.
Mit freundlicher Genehmigung des Rowohlt Verlages.
Daniel Kehlmann: Lichtspiel. Roman. Rowohlt Verlag 2023. 480 Seiten, 27,50 Euro – auch als e-Book erhältlich – www.rowohlt.de
Buchpräsentation, Lesung mit Daniel Kehlmann und Gespräch mit Tomas Friedmann – Montag (27.11.) um 19.30 im Marionettentheater – www.literaturhaus-salzburg.at
Bild: LHS / Heike Steinweg