Von den Männern und den Frauen
WALTER MÜLLER / WAHRE GESCHENKE
Von Walter Müller - "Ich bin nicht der Vater!" sagte der Mann und blickte siegesgewiss in die Runde. - Nein, er hieß nicht Joseph. Und das war kein geheiligter Ort. Nicht Nazareth, nicht Bethlehem.
Da schreibt einer Geschichten, die beinah betulich daherkommen, und in denen sich doch unsere Zeit und ihr Denken so unmittelbar spiegeln: Walter Müllers Gedicht- und Kurzgeschichtenband "Wahre Geschenke". Daraus eine Leseprobe.
Von den Männern und den Frauen
Von Walter Müller
"Ich bin nicht der Vater!" sagte der Mann und blickte siegesgewiss in die Runde. - Nein, er hieß nicht Joseph. Und das war kein geheiligter Ort. Nicht Nazareth, nicht Bethlehem. Es war ein Fernsehstudio. Die Sendung trug den Titel "Britt, Entscheidung am Nachmittag". Eine Talkshow, eine wie viele andere auch heutzutage, und das Thema lautete: "Heute kriegst du es schwarz auf weiß - du bist der Vater meines Kindes!"
"Du behauptest also", hakte diese Britt nach, "das Kind ist nicht von dir!"
"Nie im Leben", sagte der junge Mann.
"Eine Frage, Benny: Von wem soll es dann sein?"
"Da gibt es viele Möglichkeiten", brummte Benny.
"Du weißt, dass das nicht stimmt". Das war Lisa, Bennys Freundin, die Mutter des Kindes. Und sie wiegte den Buben, Benny junior, ein paar Monate alt erst, in den Armen. Wie eine Mutter halt.
Aber Benny, der Ältere, gab nicht auf.
"Dann war’s vielleicht der Heilige Geist!" – Das gab ein Gelächter.
"Eines ist sicher: der Heilige Geist war es nicht", rief die Moderatorin in die allgemeine Heiterkeit hinein. Und dann hielt sie ein Briefkuvert in die Kamera. "In diesem Kuvert steckt die ganze Wahrheit. Wir haben einen Vaterschaftstest durchführen lassen. Jetzt wissen wir es, und zwar mit 99,9-prozentiger Sicherheit. – Der Vater dieses süßen Babys ist... aber zuerst gehen wir in die Werbung".
Ich stelle mir diesen Joseph vor, Joseph aus Nazareth, damals. Maria, seine Verlobte, hat ihm soeben mitgeteilt, dass sie guter Hoffnung ist. Und er, Joseph, sei nicht der Vater. Vom Engel des Herrn erzählt sie, von der Verkündigung, und dass sie, Maria, Gottes Sohn zur Welt bringen solle, Jesus, den Retter der Menschheit.
Jetzt ist Joseph kein Übermensch. Noch nicht! Er versteht die Welt nicht mehr. Maria, seine Maria ist schwanger. Und er ist nicht der Vater!
"Hilf mir Gott, bevor ich verrückt werde!" – Man kann das Kind verleugnen und die Frau verlassen, in so einem Augenblick. Und die Freunde würden sagen: "Wir verstehen dich!"
"Ich gehe", sagt Joseph, nachdem er sich den Kopf zermartert hat. "Nicht meinetwegen, Maria. Ich wil dich nicht ins Gerede bringen!"
Matthäus, der Evangelist schreibt: "Da Joseph, ihr Mann, rechtschaffen war und sie nicht in üblen Ruf bringen wollte, fasste er den Entschluss, sich in aller Stille von ihr zu trennen."
"Kein Zweifel - du bist der Vater!" sagt Britt. "Mit 99,9-prozentiger Sicherheit!" Benny jubelt nicht, er reibt sich die Handflächen an seinen Jeans trocken, verwirrt, verlegen. Und Lisa? Steht da, das Kind im Arm, und lächelt. – Natürlich ist Lisa keine Heilige. Benny kein Heiliger. Der schon gar nicht. Und ich bin mir nicht sicher, ob sie es wirklich schaffen, die Drei. Aber als Benny-der-Ältere Benny-den-Jüngeren in den Arm nimmt, sieht das gar nicht so schlecht aus.
Und bei Joseph, damals? Gott selbst greift ein und schickt ihm einen Traum. Der Engel des Herrn erscheint auch Joseph und erzählt die Geschichte noch einmal, langsam. Zum Mitschreiben, würden wir sagen. Die Geschichte von Maria, vom Heiligen Geist und von Gottes Sohn, der das Volk erlösen werde von seinen Sünden. Da versteht Joseph, endlich, und macht sich mit Maria auf den Weg nach Bethlehem.
Es ist schon seltsam mit den Männern. Der eine braucht einen Vaterschaftstest, der andere einen Traum, mit einem Erzengel immerhin, um die ganze Wahrheit zu begreifen und anzunehmen…
... während die Frauen einfach so ihre Wunder vollbringen, die kleinen und die übermenschlich großen. Und sogar Dornenhecken beginnen zu blühen und Rosen zu tragen, wenn sie bloß an ihnen vorbeigehen, die Frauen, mutterseelenallein, mit nichts als einem Kind oder einem Gott unter dem Herzen.