Wiederentdeckung eines radikalen Autors
LESEPROBE / GERHARD FRITSCH / MAN DARF NICHT LEBEN, WIE MAN WILL
23/04/19 Wer war Gerhard Fritsch? Einer der bedeutendsten österreichischen Autoren der Nachkriegszeit? Ein reger Literaturfunktionär? Ein Getriebener, der sich in Frauenkleidern erhängte? Er war all das und noch mehr: Seine Tagebücher gewähren erstmals Einblick in Schaffenskrisen und Höhenflüge und ermöglichen eine völlig neue Lektüre seines Werks. - Hier eine Leseprobe.
VON GERHARD FRITSCH
Klaus Kastberger
Im Alleingang: Gerhard Fritsch
Gerhard Fritsch hätte zu einem der hervorragenden Repräsentanten der österreichischen Literatur nach 1945 werden können. Erklärungen dafür, warum er es mit seinen Büchern nicht dahin brachte, wurden in den letzten Jahrzehnten mehrfach vorgetragen und liegen relativ off en zu Tage. Aber es gibt auch Gründe, die verborgener sind und bis heute eher versteckt.
Die Tagebücher von Gerhard Fritsch, die hier zum ersten Mal in ihrem Gesamtzusammenhang veröff entlicht werden, geben Einblicke in diese Gemengelage und eröff nen damit auch einen unmittelbaren Zugang zur privaten Welt des Autors. Das mag Anstoß erregen, muss es aber nicht. Denn nichts von dem, was Gerhard Fritsch in diesen Aufzeichnungen über sich selbst, seine Ängste und Sorgen, Skrupel und Zweifel, Begehrlichkeiten und Wünsche sagt, bleibt privat. Stets ist, was er im Tagebuch schreibt, auf die Ausdrucksmöglichkeiten seines eigenen literarischen Schreibens bezogen. Das Tagebuch von Gerhard Fritsch ist die Folie seiner Literatur. Hier spielt der Autor durch, was später für ihn dort möglich werden sollte. Es geht um die Gesamt-Existenz des Autors, gebündelt in der Frage: Wie schaff e ich es, über mich selbst sprechend zu werden?
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13. Juni 1956
In einem stinkenden Vorstadtkaff eehaus (mein »schöpferisches « Milieu) nach einer »Dichterstunde Ferdinand v. Saar« am Stadtrand in Favoriten. Schlechter Mokka, triste Burschen, Tiefparterre eines der ersten Gemeindebauten am Gürtel. Bei Saar waren 5 (!) ganze Zuhörer – und Christl hat sich durch die Steinklopfer gequält. Aber das ist eigentlich nicht so wichtig: ich habe heute – vor dem Vortrag – die Helmut-Story satt bekommen – und damit viel mehr! Auf wie lange? Ich werde es ja sehen. Eigentlich müßte man sich schon freimachen können von seinen Perversionen: und wenn nicht freimachen, sich doch ein wenig distanzieren. Nicht immer gleich nachgeben. Mit dem Nichtnachgeben beginnt jede Leistung. – Das Radio kreischt und Billardkugeln krachen, ich könnte jetzt gut und leidenschaftslos schreiben, mehr sehen und darstellen, aber ich muß bald heim, Mirli wartet.
Oft sehne ich mich nach bindungsloser Einsamkeit – töricht, denn ich sehne mich nach Bindung. Und Mirli ist das beste, was ich in meinem Leben erreicht habe: ein Mensch. Vor einigen Tagen begann sich das wirkliche Gespräch mit ihr nach langer Zeit wieder fortzusetzen. Ich bin gewiß zu egoistisch. Die Überwindung des Egoismus ist aber nicht zuletzt eine Zeitfrage.
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Ob dieses »intime« Tagebuch ehrlich wird? Und mehr als Geschwätz? Ich bin kein Gide – nicht einmal ein Schidsky 22 (unser Name für Saiko). Ob sich ein Mensch wirklich objektiv beurteilen kann? Wohlgefällige Selbstenthüllungen. Masochismus = die »Erfindung« eines Schriftstellers – und Österreichers. – Man sollte in der Konsequenz des grammatisch richtigen Satzes denken können. Assoziativ = vegetativ (meine Veranlagung) birgt reichlich Gefahren. In der Literatur und im Leben. Die Pseudophilosophien wuchern wie Unkraut.
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Ein Heft, ein schönes Heft, lockt zu Bekenntnissen. Ich bin untauglich für Priester und Psychoanalytiker. Ich beichte (vielleicht!) dem Papier. Und das in Bruchstücken. Da fällt mir das Beichtprotokoll Okopenkos ein. Er ist einwandfrei ein Narziß. So wichtig nehme ich mich nicht, das kann ich ziemlich sicher behaupten. Oder nehme ich nur die Welt nicht so wichtig?
Mit freundlicher Genehmigung des Residenz Verlages