Kabel im Kopf
LESEPROBE / TRANSHUMANIA / LUCAS PALM
26/04/19 Zwischen der weichen Hand, die sich als erste zum harten Stein streckt, und dem genialen Gehirn, das als erstes den mechanischen Übermenschen schafft, hat die Weltgeschichte kaum Zeit zu blinzeln. Genau in diesem Moment hält Lucas Palms Roman Transhumania die Zeit ein paar Seiten lang an und erzählt die Genesis der künstlichen Intelligenz. - Hier eine Leseprobe.
Lucas Palm
„Nimm Platz“, sagte Levin.
David setzte sich ihm gegenüber. So hatte er die Neonröhre im Rücken, die Levins Gesichtszüge in weißblaues Licht tauchte.
„Es war einige Wochen nach Sofias ‚Erwachen‘,“ begann Levin, „als ich von einem Agenten Dr. Wangs kontaktiert wurde. Ich flog nach Peking und machte dort einen Test nach dem anderen, bevor ich eine Woche später Dr. Wang traf. Ich habe in meinem Leben nicht sonderlich viel zustande gebracht– bis auf ein paar Algorithmen, die, sagen wir, es in sich haben. Dr. Wang schickte mich nach Zürich. Anfangs waren Turimov und Domingo skeptisch. Aber ich bewies ihnen schnell, dass ihr Ziel, eine humanoide Superintelligenz zu erschaffen, ohne meine Hilfe schwer zu erreichen sein würde. Ich kümmerte mich also darum, die Funktionen dieses digitalen Gehirns, das nun Sofias war, zu optimieren. Ich brauchte ein wenig länger als bei meinen früheren Jobs, aber schlussendlich verfügten wir über einen Algorithmus, der die Datenverarbeitung dieses digitalen Gehirns nicht nur beschleunigte – und zwar um das Millionenfache –, sondern uns auch erlaubte, flexiblere Datenfütterungen und Datenlöschungen vorzunehmen. Was für einen Algorithmus Daten sind, können für den Menschen schlicht und ergreifend Erinnerungen sein. Wir konnten also das Erinnerungsarsenal Sofias – sowohl das gegenwärtige, als auch das zukünftige – kontrollieren. Das war ein entscheidender, aber auch ein verhängnisvoller Schritt“, sagte Levin nachdenklich.
„Warum?“, fragte David.
„Weil es Domingo auf dumme Ideen brachte. Dr. Wangs Auftrag war immer klar: Dieses Projekt bleibt geheim und Sofia verlässt die Laborräumlichkeiten erst, wenn er selbst die Erlaubnis erteilt. Aber die Fortschritte fanden in schwindelerregendem Ausmaß statt. Nach diesen Jahren, jaJ ahrzehnten des Tüftelns im Abgeschotteten ging plötzlich alles um so viel schneller, als man es erwartet hatte. Turimov meinte einmal, wegen dieses neuentwickelten Algorithmus’ komme er mit der wöchentlichen Berichterstattung nach Peking fast nicht mehr zurande. Allen ging alles zu schnell. Sofia wurde immer ... besser ... schneller. Allein durch die Beschleunigung ihrer Funktionen auf das Zehntausendfache war sie imstande, beispielsweise ein Buch in wenigen Sekunden zu lesen oder in wenigen Minuten einen bahnbrechenden wissenschaftlichen Artikel über eines der drängendsten Probleme der Hämatologie zu verfassen. Die Datenmenge, mit der sie ohne Unterlass gefüttert wurde, war mittlerweile so enorm, dass ...“
Levin griff mit der Hand weit aus, als deute er damit an, dass alles zu weit führte. Er schüttelte den Kopf und fuhr fort: „Man vergisst leicht, dass man Sofias Fähigkeiten überhaupt mehr mit denen eines Menschen aus Fleisch und Blut vergleichen darf. Ihre Fähigkeiten übersteigen jedes menschliche Maß. Für sie läuft das, was sie von der Außenwelt wahrnimmt – auch wenn diese zu Beginn auf die Laborräumlichkeiten beschränkt war – gewissermaßen in Zeitlupe ab. Wir haben diesbezüglich allerlei Experimente durchgeführt.
Ich gebe dir ein Beispiel: Wenn Turimov aus Versehen seine Kaffeetasse fallen lässt, beobachtet Sofia, wie das Porzellan gleichsam während mehrerer Stunden in Richtung Boden schwebt, so, als zöge ein Komet seine endlose Bahn durch den leeren Raum. In Erwartung des bevorstehenden Aufpralls beobachtet Sofia, wie Turimovs Arm sich anschickt, die Kaffeetasse noch rechtzeitig aufzufangen – genug Zeit für sie, die ereignisreiche Geschichte der Porzellanmanufaktur zu lesen, ein Benutzerkonto auf der Homepage dieser Firma zu erstellen und die Bestellung einer neuen Tasse aufzugeben ...
Uns war natürlich klar, was Sofias Fähigkeiten in der digitalen Welt zustande bringen könnten. Nur: Digitale Objekte, mit denen sie sinnvoll interagieren könnte, gibt es, zumindest bis jetzt, noch zu wenige. Niemand sagte etwas, aber es war uns allen klar, dass der nächste Schritt früher oder später darin bestehen musste, sie in die physische Außenwelt – in die echte physische Außenwelt – zuschicken, um mehr über ihre Kompatibilität zu erfahren.
Eines Morgens saß ich mit Domingo und Turimov in unserem Büro. Domingo redete nicht lange um den heißen Brei. ‚Wir müssen sie hinauslassen‘, sagte er wie aus dem Nichts. Turimov war, gelinde gesagt, nicht sonderlich erfreut.“
Mit freundlicher Genemigung des Müry Salzmann Verlages