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Wo die Vergangenheit nicht vergeht

LESEPROBE / HANNA SUKARE / SCHWEDENREITER

30/10/18 Stumpf – ein Ort, in dem die Zeit nicht geheilt hat. Jahrzehnte nach dem Krieg wird in der Ortschronik eine Bühne errichtet für einen SS-Mann, ein Pranger für die Wehrmachtsdeserteure. Paul Schwedenreiters Großvater war einer der Deserteure. Enkel Paul begibt sich auf eine Suche, die ihn in die Kinderstube der zweiten österreichischen Republik führt. – Hier eine Leseprobe.

VON HANNA SUKARE

Kopflose Gegend

Ich werde nicht ankommen. Wie lange diese Reise dauert. Die Strecke von Wien nach Stumpf bin ich so oft wie keine andere gefahren. Diesmal nimmt die Fahrt kein Ende, die Minuten kommen voneinander nicht los, die Stunden verkleben, als müsste die Lok sich gegen Widerstände durchkämpfen, Hindernisse überwinden. In Wien bin ich mit einer unbestimmten Vorfreude weggefahren. Nun werde ich müde und will die Lider nicht sinken lassen, strenge mich an. Ich sträube mich, je näher der Zug meinem Ziel kommt. Ich frage den Schaffner, ob die Lok ein Problem habe. Er schaut mich an, als wäre das Problem ich. Ich bin Paul Schwedenreiter. Nach einem langen Blick erwidert er: Wir sind planmäßig unterwegs.

Stumpf hat keinen Bahnhof. Stumpf liegt auf einem Plateau über dem Tal. Unten im Tal stehen die Bahnhöfe, Zach im Osten, Pinz im Südwesten. Meistens steige ich in Pinz aus, weil ich von diesem Bahnhof das Haus schnell erreiche. Das Haus gehört zwar zu Stumpf, es steht aber nicht auf dem Plateau. Es steht in einem Graben, fern der Dörfer an einem Nichtort. In einem Schuppen beim Bahnhof Pinz parkt mein Auto.

Ich lenke es hinaus in die feuchte Nachtluft, öffne das Fenster. Ich nehme die alte kurvige Straße entlang der Zach bis zur Abzweigung in den Graben. Im Graben, so heißt die Straße, an der neben dem Bach das Haus steht. In diesem Holzhaus bin ich aufgewachsen, nach Mitternacht erreiche ich es. Ich gehe die paar Schritte zur Haustür, sperre auf, lege den Rucksack ab und den Mantel. Im Vorzimmer brennt Licht. Seit nur noch ich dieses Haus benutze, bleibt ein Licht brennen, wenn ich nicht hier bin. Das Haus steht allein, die Nachbarn sind Bäume, Tiere und Felsen. Wollte jemand einbrechen, würde eine Glühbirne ihn davon nicht abhalten. Solange mir die Sinnlosigkeit meines Tuns nur bewusst bleibt.

Ich werfe einen Blick in die Küche, gehe in den nächsten Raum und in den nächsten, dann in den Oberstock. Alle Türen sind nun geöffnet. Ich beginne zu summen. Während ich die Stufen wieder hinuntergehe und meine Hand über das Geländer gleitet, wird das Summen ein Singsang, ein Sprechgesang. Zuerst nur Vokale, dann Silben, Worte, schließlich Satzmelodien.

Rosa, willkommen in deinem Haus, singe ich, ist nun mein Haus, doch war seit je dein Haus. Rosa, wird dein Haus ewig bleiben. Meine Urgroßmutter, ich begrüße dich, verneige mich vor dir, oh du Rosa. Einen Augenblick halte ich inne, verneige mich, gehe dann in das von Rosa Wohnzimmer genannte und früher nur zu Weihnachten benutzte Zimmer, meine Hand streift die Holzwand, rückt ein Bild ins Lot.

Felician, singe ich, gegrüßet seist du mein Felician, das Bild zeigt dich in der Kindheitslederhose, ernst schaust du drein, ich grüße dich in Rosas Haus, ich grüße dich, Großvater Felician. Wieder Verneigung.

Ich gehe zurück in die Küche, ziehe an der Schnur des Hampelmanns, singe, Kaspar, auch dich grüße ich, Kaspar mein Vater, und ich grüße Zappi, den Hampelmann, du hast ihn gesägt, tauftest ihn Zappi und ich bemalte ihn, ich danke dir, mein Vater Kaspar, für den Zappi. Verneigung.

Oh Rosa, Felician, Kaspar, ihr meine Toten, singe ich und schmiege mich in die Verneigungen, ich grüße euch alle in Rosas Haus im Graben von Hinterstumpf.

Sobald ich in Rosas Haus komme, singe ich diese Ankunftslitanei. Der Singsang bringt mir die Räume näher, das Haus, meine Toten.

Mit freundlicher Genehmigung des Otto Müller Verlags

Hanna Sukare: Schwedenreiter. Roman. Otto Müller, Salzburg 2018. 172 Seiten, 20 Euro. Auch als e-book erhältlich - www.omvs.at
Bild: Fritz Lorber/Otto Müller Verlag

 

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