Auch Totengräber sterben
LESEPROBE / MARIO SCHLEMBACH / NEBEL
21/06/18 Die Nachricht vom Tod seines Vaters führt einen jungen Mann zurück an den Ort seiner Herkunft. Viele Stunden hat er am Friedhof verbracht und den Vater bei seiner Arbeit als Totengräber beobachtet. Jetzt schaufelt er ihm sein Grab und tritt seine Nachfolge an. Überwindet der junge Totengräber seinen ausschließlichen Blick zum Tod hin oder bleibt ihm das Leben unerreichbarer Sehnsuchtsort? – Hier eine Leseprobe aus „Nebel".
VON MARIO SCHLEMBACH
„Vater verstorben. Beerdigung in drei Tagen", höre ich die Stimme der Bestatterin, nachdem ich von einem Spaziergang durch den stillgelegten Friedhof zurück in mein kleines Zimmer komme und die Nachrichten abrufe. Ihre Stimme ist mir vertraut, obwohl ich sie so viele Jahre nicht mehr gehört habe. Monoton spricht sie alle Worte bis auf die letzte Silbe zu Ende, als wäre jedes für sich eine abgeschlossene Welt und keinem Satz zugehörig.
„Vater verstorben."
Immer wieder spule ich zum Anfang.
Wann, wo und wie ist er gestorben? Ich möchte nicht mit unnötigen Fragen stören und rufe nicht zurück. Der Leichnam muss bereits freigegeben worden sein, wie ich denke, wenn der Bestattungstermin feststeht.
Wohl ein natürlicher Tod.
Ich nehme einen Nachtzug in meine Heimat. Starr blicke ich in die Umrisse der Augen vor mir, die sich im Fenster widerspiegeln. Ein fettleibiger Mann quetscht sich in den gegenüberliegenden Mittelsitz des Abteils. Ich verliere mich im Rhythmus seiner Atemzüge und in der kratzigen Melodie seiner schlaffen Stimmbänder. Die Monotonie beruhigt mich. Gemeinsam mit dem Rattern der Schienen und der Vibration des Untergrunds hüllt mich all das in eine warme Melancholie.
Stunden vergehen, in denen ich meinem Spiegelbild und seinem Atem ausgesetzt bin. Ich sehe ein Gesicht in der Ferne, dessen Züge ich nicht deuten kann. In jeder Falte eines Fremden erkenne ich hunderte Geschichten, aber hier, so unmittelbar vor mir selbst, ist nichts als eine große Leere.
Mein Blick verschwimmt vor meinem Leben.
Wie lange irre ich schon in diesem Nebel?
„Wir haben einen Sterbefall", vernehme ich dumpf aus der Ohrmuschel des giftgrünen Wählscheibentelefons und reiche meinem Vater den Hörer. Als Kind nehme ich jeden Anruf entgegen und spiele den Sekretär.
Die Bestatterin ruft bei uns an, um sich den Termin für ein Begräbnis bestätigen zu lassen. Mein Vater, der Totengräber, weiß oft bereits vor ihr, dass jemand gestorben ist. In so einem kleinen Dorf verbreitet sich die Nachricht eines Ablebens wie ein Lauffeuer. Trotzdem ändert sich das Ritual ihres Gespräches nie – die immer gleichen Begrüßungsformeln und Abschiedsfloskeln.
Ich warte ungeduldig, bis mein Vater auflegt und mir von den Einzelheiten berichtet: Wer ist gestorben, wann, wo und wie? Sobald ich die Stimme der Bestatterin höre, dreht sich das Lotterierad in mir und ich suche nach möglichen Kombinationen: Alt, Zuhause, Herzinfarkt ist stets die sicherste Wette. Alles andere sind kaum zu erratende Verbindungen im schier endlosen Variablenmeer des Todes.
Auch Totengräber sterben.
Als Kind kann ich mir das gar nicht vorstellen.
Wer soll sie denn begraben?
Mit freundlicher Genehmigung des Otto Müller Verlags