Phantomschmerz nach dem Leben
LESEPROBE / MILENA MICHIKO FLAŠAR / HERR KATŌ SPIELT FAMILIE
05/02/18 Eigentlich könnte Herr Katō nun das alte Radio reparieren oder die Plattensammlung ordnen. Doch als er der jungen Mie begegnet, die ihm ein seltsames Angebot macht, beginnt er die Dinge anders zu sehen. „Herr Katō spielt Familie“ ist ein nachdenklicher Roman über Erinnerungen und unerfüllte Träume, über einen späten Neuanfang und über das Glück. – Hier eine Leseprobe.
Von Milena Michiko FlaŠar
Als man ihm sagt, dass alles in Ordnung ist – keine Auffälligkeiten, nichts Besorgniserregendes – für sein Alter tipptopp –, da empfindet er neben der Erleichterung eine insgeheime Enttäuschung. Er hat gehofft, man würde etwas finden. Und auch wenn es ihm kaum bewusst gewesen ist, hat ihm die Hoffnung darauf ein Gefühl von Wichtigkeit gegeben: Man würde etwas finden und entsprechende Maßnahmen ergreifen. Eine Diät etwa. Sport. Drei Tabletten pro Tag. Maßnahmen, auf die er sich gefreut hat und die er trotz Vorfreude darauf zuerst mit einigem Widerstand, dann, sich nach und nach fügend, am Ende eifrig befolgt haben würde. Aber so? Was soll er machen? Man händigt ihm die Befunde aus, er nimmt sie entgegen. Jetzt könnte er darauf zu sprechen kommen, wie schwer es ihm fällt, morgens aufzustehen, aber da hat man ihn bereits aus dem Untersuchungsraum begleitet, zurück ins Wartezimmer, wo er am liebsten bleiben würde. Es ist schön hier. Man hat sich Mühe gegeben. An den Wänden hängen Fotos von Babys in Blumenkelchen, und er würde gerne, sehr gerne davor sitzen bleiben. Sich fragen, wie sie wohl dorthinein geraten sind, die Babys mit ihren Schmetterlingsflügeln, wie die wohl befestigt wurden, an ihren schmalen weißen Rücken. Auch darauf hätte er zu sprechen kommen können, dass er sich immerzu fragt und fragt und fragt, ohne dass sich daraus ein Sinn ergibt, und ob das nicht symptomatisch ist für eine Krankheit, dass er keine Ruhe hat vor den Fragen, gerade morgens nicht, wenn er die Augen aufschlägt, dass dann die Sinnlosigkeit auf seinen Brustkorb drückt. Oder ist das normal? Eine Alterserscheinung? Und es braucht Zeit, die er ja nun hat, bis er sich gewöhnt hat ans Zeithaben? Bei der Garderobe nimmt er seine Jacke vom Haken, sie ist dunkelgrau, fast schon schwarz. In dem Geschäft, wo er sie gekauft hat, sagte man ihm, die Farbe sei von einer zeitlosen Eleganz, sowohl klassisch als auch modern, dazu der Schnitt, von einer Schlichtheit, die stark im Trend liege und dabei gleichzeitig traditionell und – im Grunde nichtssagend ist. Den Gedanken hat er freilich für sich behalten, ebenso wie den, dass es wohl die letzte Jacke war, die er kaufte, das letzte Hemd, die letzten Schuhe. Diese Sachen, dachte er, genügen. Mehr braucht er nicht mehr. Und es hat ihn mit einer Zufriedenheit erfüllt, derart bescheiden zu sein in seinen Ansprüchen für sich selbst, zugleich mit einer Wehmut, an jenem Punkt angelangt zu sein, von dem er immer geglaubt hatte, er befinde sich in weiter Ferne, irgendwann würde er nichts mehr haben wollen. Nun war es so weit. Lächerlich. Jetzt sieht er es ein. Und dass er sich glücklich schätzen sollte, Hauptsache gesund, nicht auf die Uhr schauen, nicht seufzen, die Mundwinkel nach oben ziehen. Fast tut es weh, das Lächeln, mit dem er die Praxis verlässt. Ein leichtes Zucken im Gesicht, so in etwa stellt er sich einen Phantomschmerz vor.
Es war seine Frau, die ihn dazu gedrängt hat, sich einmal von Kopf bis Fuß untersuchen zu lassen. Sie meinte, Vorsicht sei besser als Nachsicht und das schon gar nicht mehr zu ihm hin, sondern an ihm vorbei ins Leere gemurmelt: »Immerhin wäre das eine Beschäftigung.« Das Kränkende daran hat er zuerst nicht hören wollen. Erst etwas später, schon halb im Schlaf, fand er sich ganz zu Unrecht in eine Reihe gestellt mit jenen anderen, die nichts Besseres zu tun hatten, als jeden Monat einmal zum Arzt zu gehen, um dort mit Gleichgesinnten über ihre Wehwehchen zu sprechen und auf diese Art, wenigstens zeitweilig, der den Wehwehchen zugrunde liegenden Einsamkeit zu entfliehen. Er sah sie vor sich. Fröhlich schwatzend über ihre Krankheiten, die, wenn man es genau nahm, gar keine waren, und sie wussten es und hielten dennoch daran fest, an ihrem Stechen und Brennen und Zwicken. »Erbärmlich!« Mit diesem Wort und indem er es gleichsam aus sich herausschleuderte, versuchte er sich von ihnen abzugrenzen, aber sooft er es auch wiederholte mit immer schwächer werdendem Nachdruck – »Erbärmlich! Erbärmlich! Erbärmlich!« –, am Ende schien es ihn miteinzuschließen, und was ihn kränkte, war nicht die Zugehörigkeit, sondern eben die Einsamkeit, die sie voraussetzte. Dass er in seinem Bett lag, daneben die Wand. Er nach einer Bewegung auf der anderen Seite lauschte, aufgrund eines Knarrens genau wusste, seine Frau war noch wach. Er nicht mehr über sie wusste als das. Und dass er sie nicht zu benennen vermochte. Bloß spürte. Die Fremdheit, die zwischen ihnen stand, sie das einzig Vertraute war, was sie miteinander verband.
Mit freundlicher Genehmigung des Wagenbach Verlages