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Wer waren die Flüchtlinge früher?

LESEPROBE / SYLVIA HAHN / MIGRATIONSFORSCHUNG

03/05/17 Liefert die Migrationsforschung die richtigen Antworten auf Fragen, wie sie sich in der Gegenwart stellen? Stellen wir die richtigen Fragen und passen die Maßstäbe? – Das Buch „Kritische Wissenschaft in der Migrationsgesellschaft – Migration und die Macht der Forschung“ wird am Donnerstag (4.5.) in Salzburg vorgestellt. Einen Grundsatzbeitrag hat Sylvia Hahn, Vizerektorin der Universität Salzburg, geschrieben. Daraus eine Leseprobe.

Von Sylvia Hahn

Obwohl wir mittlerweile wissen, dass Migration eine lange Geschichte hat, scheint es interessant, dass gerade diesem Aspekt im kollektiven Gedächtnis, in der Erinnerungskultur der europäischen Gesellschaft (vgl. Harzig 2006), aber auch in der Familiengeschichte nur wenig Platz eingeräumt wird. Migration wird nach wie vor zumeist als aktuelles, aber kaum als zeitüberspannendes historisches Phänomen wahrgenommen. Die Betrachtung und Analyse von Wanderbewegungen in einer historischen Langzeitperspektive, um beispielsweise Kontinuitäten und Diskontinuitäten wahrzunehmen und aufzuzeigen, wird nur selten ins Auge gefasst und/oder von den politischen Akteur_innen in den politischen Diskurs einbezogen. Vielfach beschränkt sich die „historische Perspektive“ auf die letzten 50 oder 60 Jahre – auf die Ungarnflüchtlinge von 1956 oder die Gastarbeiter_innen seit den 1960er-Jahren. Die großen Flüchtlingsbewegungen der beiden Weltkriege mit ihren zahlreichen über das heutige Österreich verstreuten Flüchtlings- und Kriegsgefangenenlagern, aus denen nach Kriegsende nicht selten neue Stadtviertel und Ortschaften entstanden, werden im heutigen Diskurs, wenn es um Integration und/oder Ausgrenzung geht, kaum beachtet und elegant beiseitegeschoben.

Dass allein das quantitative Ausmaß an Flüchtlingen und Kriegsgefangenen auf dem Gebiet des heutigen Österreich sowohl im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg ein Vielfaches der Flüchtlinge, die 2015/16 zu uns gekommen sind, betrug, darüber wird wenig bis kaum berichtet. Warum fragen wir uns nicht, wer die rund zehn Prozent der Flüchtlinge waren, die in den 1940er- und 1950er-Jahren hierblieben, wer diejenigen waren, die in ein anderes europäisches Land oder die USA, nach Kanada oder Australien weiterwanderten? Warum fragen wir uns nicht, wie es ihnen, von denen sehr viele deutschsprachig waren bzw. die deutsche Sprache beherrschten, in den ersten Jahren und Jahrzehnten hier in Österreich als neu Angekommene erging, welche Hilfe und welchen positiven Zuspruch sie erhielten und mit welchen Vorurteilen sie zu kämpfen hatten?

Allein der Blick zurück auf das 19. und 20. Jahrhundert zeigt, dass das Gebiet des heutigen Österreich aufgrund vielfältiger (geopolitischer, wirtschaftlicher, administrativer etc.) Faktoren stets Ein- und Auswanderungs- sowie Transitregion für Millionen von Migrant_innen über Jahrhunderte hinweg war (und bleiben wird). Trotz dieser Tatsachen fehlt es an Erinnerungsmarken, die uns die umfangreiche und vielfältige Geschichte der Zu- und Abwanderung in den unterschiedlichen Regionen Österreichs ins Bewusstsein bringen, sie zu einem Allgemeingut der Geschichte unserer Städte und Dörfer, der Familien werden lassen. Aus der Erforschung der Wanderbewegungen im Regionalen, den Wegzügen einzelner Familienmitglieder und den neu Hinzugekommenen in den Dörfern und Städten kann der Bogen bis zu den globalen Migrationen gespannt werden.

Regionale, nationale, internationale Migrationen können nur verstanden werden, wenn man das Lokale in das Globale einordnet. Dass dies weder im politischen Diskurs noch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung in ausreichendem Maße passiert, liegt meines Erachtens darin begründet, dass sowohl die historische wie auch die zeitgenössische soziologische, sozial- und/oder politikwissenschaftliche Migrationsforschung nach wie vor zu stark nationalstaatlich orientiert ist. Migration wird in der Forschung immer noch in der Hauptsache als eine nationalstaatliche Angelegenheit diskutiert und erforscht. Migration und Nationalstaat sind fast wie eine Gleichung – eine Gleichung, die jedoch zu kurz greift, um das Phänomen der Migration, der Wanderungen der Menschheit auch und vor allem im globalen Kontext zu verstehen. Denn Menschen waren stets über natürliche, über städtische und später über nationalstaatliche Grenzen hinweg mobil; auch (regionale) Arbeitsmärkte haben sich weder in der Vergangenheit noch heute an (künstlich gezogene) nationalstaatliche Grenzen gehalten.

Grenzüberschreitende regionale, nationale und/oder internationale Wanderungen waren und sind Teil des menschlichen Lebens(zyklus) – und das ohne Unterschied des Geschlechts oder des Alters, der ethnischen oder kulturellen Herkunft der Betroffenen.

Aus diesem Grund sollten weniger die Migration von Türk_innen nach Österreich/Deutschland oder von Österreicher_innen nach Kanada, sondern vielmehr die Migrationen von verschiedenen sozialen Gruppen, Familien- und/oder Berufsverbänden (aus verschiedenen Regionen), von Einzelindividuen unterschiedlichsten Geschlechts und Alters im Fokus der Forschung stehen.

Ebenso sollte die Verbindung der Mikro- und Makroebene, also des Regionalen und Globalen, mehr Berücksichtigung finden. Denn die Migrationen auf der Mikroebene, etwa die Auswanderung aus ländlichen Gebieten, aus Dörfern (wie etwa aus dem Burgenland in den 1950er-Jahren oder davor), lassen sich in die „große“ Migrationsgeschichte auf der Makro- bzw. globalen Ebene integrieren und sind ein wichtiger Teil davon.

Aus dem Buch Lena Karasz (Hg.): Kritische Wissenschaft in der Migrationsgesellschaft – Migration und die Macht der Forschung. Mit Beiträgen von Ruth Wodak, Rainer Bauböck, Sylvia Hahn, Inci Dirim, Erol Yildiz etz. 260 Seiten, 29,90 Euro. ÖGB Verlag, Wien 2017 – www.oegbverlag.at
Wirtschafts- und Sozialhistorikerin Ao. Univ. Prof. Sylvia Hahn ist Vizerektorin für Internationale Beziehungen und Kommunikation an der Universität Salzburg.
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin

Das Buch wird morgen Donnerstag (4.5.) um 18.30 Uhr in der Universitätsbibliothek Salzburg (Bibliotheksaula) vorgestellt. Im Anschluss eine Diskussion mit Wassilos Baros (Universität Salzburg), Lena Karasz (Herausgeberin, AK Wien), Sylvia Hahn (Universität Salzburg) und Cornelia Schmidjell (AK Salzburg).

 

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