Durch Hunde lernt man Menschen kennen
BUCHBESPRECHUNG / SCHMIDT / EIN LANGES JAHR
22/04/16 Die Malerin, die ihre Selbstmord-Einkaufsliste schreibt, der reiche Sohn, der weder Fotograf noch Schriftsteller, sondern Hundetrainer werden will, die alte Dame mit ihrer Hirschtalgsalbe, die irgendwann verschwunden ist – Eva Schmidt schreibt in ihrem neuen Roman „Ein langes Jahr“ über Alltagsmenschen, ihr Leben, ihre Liebe und ihre Hunde.
Von Christina König
Wer nach großen Szenen oder emotionalem Pathos sucht, sollte lieber die Finger von diesem Buch lassen. Eva Schmidt verzichtet auf Gefühlsduselei, unnötige Kunstgriffe und poetische Finessen. Stattdessen erzählt sie in klarer, unaufgeregter Sprache die Geschichten von Menschen, die uns allen irgendwie bekannt vorkommen.
Da ist das alte Ehepaar, das vormittags um halb zehn den Verzehr von Marmorkuchen auf Goldrandtellern zelebriert, mit Ritualen, so alt wie ihre Ehe. Da ist der zehnjährige Joachim, der in einer Babuschka den Schlüssel zu dem Kasten versteckt, in dem er die Frauenkleider aufbewahrt, die er hin und wieder anzieht. Und da ist die namenlose Frau, die über ihre Webcam Bilder eines Leuchtturms in Kanada betrachtet, aber nie hinfährt.
Zentrum der Geschichten ist eine Stadt am Ostufer eines Sees, die von Bergen begrenzt wird und in der Nähe von Deutschland und der Schweiz liegt. Obwohl der Name nie genannt wird, denkt man dabei an Bregenz, die Heimatstadt der Autorin. Hier leben Schmidts Protagonisten „ein langes Jahr“ über miteinander und nebeneinander her. In ganz kurzen Kapiteln erzählt Schmidt von deren Leben. Todesfällen und häuslicher Gewalt räumt sie ebenso viel Platz und Sorgfalt ein, wie dem grünen Sonnenschirm der Nachbarin.
Der Alltag der Personen ist geprägt von Beobachtungen durch Fensterscheiben und über ordentlich getrimmte Hecken hinweg: Masarek beobachtet in seiner Bomberjacke die Frau von gegenüber, die er nur Madame Oswald nennt. Die Pensionistin in ihrem Garten mit den blühenden Hortensien schaut hinüber zum „Steckdosenhaus“ und fühlt sich ihrerseits von den Blicken einer Raucherin gestört, die im Dreiviertelstundentakt auf den Balkon kommt. Und Ben beobachtet Ayse, das türkische Mädchen von nebenan, mit dem er gern zur Burg wandern würde. Manchmal begegnen sich die Personen dann auch. Manchmal nicht. Und manchmal entwickeln sich aus diesen Begegnungen die ungewöhnlichsten Freundschaften und Beziehungen.
Eingefädelt werden die Begegnungen nicht selten von den Hunden der Personen. Denn Hunde haben sie fast alle. Oder sie wollen welche. Die haben dann Namen wie Albuquerque und Hemingway und sorgen dafür, dass die Herrchen und Frauchen auch unter Leute kommen. Es ist eben so, wie die namenlose Erzählerin am Ende sagt: „Durch Hunde lernt man Menschen kennen, ob man will oder nicht.“
Ob erwünschtes oder weniger erwünschtes Kennenlernen, ob von Hunden herbeigeführt oder nicht, alle kleinen und großen Begegnungen schildert Schmidt mit der gleichen behutsamen Einfühlsamkeit, die auf psychologische Kommentare verzichtet. Ihre Figuren sind wie ihre Sprache: ganz still, unauffällig – und dadurch umso eindringlicher.