Im Wendekreis des Pferdefuhrwerks
BUCHBESPRECHUNG / ARCHITEKTUR
03/04/14 Der Unterschied ist evident, wenn man das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch verschlafen dahintümpelnde Salzburg mit Städten vergleicht, die in der Gründerzeit expandierten. Hierorts gibt es bis auf ein paar Straßenzüge im Andräviertel fast nichts aus dieser Epoche.
Von Reinhard Kriechbaum
Wer sich sattsehen will an Gründerzeit, ist hingegen in Graz rund um die Herz-Jesu-Kirche bestens aufgehoben. Das Buch über dieses Stadtviertel empfiehlt sich als Reiseführer in die Epoche. Freilich: Zwischen Budapest und Zagreb, Ljubljana und Innsbruck oder Linz – und nicht zuletzt mit Wien als Mittelpunkt – finden sich gründerzeitliche Stadtviertel zuhauf. Aber man muss schon weit fahren, um ein bis heute so unverfälschtes Gebiet wie jenes um die Herz Jesu Kirche in Graz zu finden. Ins ukrainische Lemberg zum Beispiel.
Diesem Stadtviertel in Graz also haben die Fotografin Barbara Kramer-Drauberg und der ehemalige steirische Landeskonservator Friedrich Bouvier nachgespürt. Beide wohnen dort, sozusagen im Schatten des dritthöchsten Kirchturms von Österreich (nach jenem des Stephansdoms in Wien und des Mariendoms in Linz). Ihre Liebe zum Grätzl und ihre Vertrautheit damit ist greifbar.
Für die Herz-Jesu-Kirche haben die selbstbewussten Stadterweiterer einen Architekten in seine Geburtsstadt zurückgeholt, der damals gerade mit dem Münchner Rathaus ein für die Epoche überaus markantes Gebäude realisiert hatte: Georg Hauberrisser den Jüngeren. Repräsentativer ging’s fast nicht. Er kam aus der Schule des Wiener Rathaus- und Kirchen-Baumeisters Friedrich von Schmid, eines famosen Neo-Gotikers. Hauberrisser führte am Beispiel der Herz-Jesu-Kirche exemplarisch vor, wie viel Kreativität auch der vermeintliche Historismus ermöglichte.
Vater Hauberrisser war übrigens auch Architekt. Er hatte für Erzherzog Johann das Palais Meran erbaut - auch dieser Bau, jetzt Hauptgebäude der Grazer Musikhochschule (und einst „Heimathaus“ des heranwachsenden Nikolaus Harnoncourt) liegt im Herz-Jesu-Viertel. Dazwischen: Wohngebäude sonder Zahl mit den typischen historisierenden Fassaden. Die zeittypische Blockbebauung ließ viel Grün in den geräumigen Innenhöfen zu. Weil Gewerbe und Industrie sich eher zum Bahnhof orientierten, war hier, im Nordosten der Stadt, primär Wohn-Bebauung angesagt. Die bis heute hier gegebene außerordentliche Wohnqualität fing die Fotografin für dieses Buch aufs Anschaulichste ein. So sinnlich wie analytisch dokumentiert sie Fassaden, Stiegenhäuser, Erker, Fensterformen – und natürlich jene „Bausteine“, die so bestimmend für die Epoche sind: Karyatiden und „Hausköpfe“, Gesimselemente, Schlusssteine und dergleichen. Manches wurde individuell gestaltet, mehrheitlich haben sich die Bauherren aber aus Musterbüchern bedient, nach persönlichen Vorlieben, sich anlehnend vor allem an Renaissance und Klassizismus. Der aufkeimende Jugendstil hat dann nochmal deutliche Spuren hinterlassen.
Warum, fragt man sich heute, wurden damals die Straßen gar so großzügig breit angelegt? Schließlich war das Automobil noch nicht erfunden. Bauordnungen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts sahen für die damaligen urbanen Neubaugebiete vor, dass es für Pferdefuhrwerke möglich sein musste, zu wenden. Es ging um den Wendekreis der Fuhrwerke, nicht um die Spurbreite! Solche Straßenbreite reicht im Prinzip bis heute, um innerestädtischen Verkehr einigermaßen reibungslos fließen zu lassen. Das Gestern ist hier also nur selten im Weg.