Jahrlauf im Zeichen der Spirale
BUCHBESPRECHUNG / BODO HELL, IMMERGRÜN
02/01/12 Punkte sind eine praktische Erfindung - aber sie sind nichts für Bodo Hell. Sein Stil und sein Denken zeichnen sich dadurch aus, dass es eben möglichst wenige Punkte gibt. Die Assoziationsspirale dreht sich ungebremst, unaufhaltsam weiter.
Von Reinhard Kriechbaum
"… was hätten wir sonst noch an sogenannter Identität vorzuweisen wagt jemand zu fragen, wenn wir uns nicht als jodelnde Älpler verkleideten, so etwas haben die Beinvögel gar nicht gern: erklärt der AlmrauschhonigImker, wenn jemand im dunklen Lodengewand vor die Bienenstöcke tritt und gar noch daran herumklopft, Tracht ist das, was wir tragen: meint der Altblasbichlbauer aus der Ramsau am Dachstein ungerührt, und Brauch ist das, was wir brauchen, zumindest alle heiligen Zeiten scheinen wir Zuspruch und Fürsprecher zu benötigen/zu brauchen: fürs Immer-Wieder-Überstehen des Jahrlaufs im Zeichen der Spirale …"
Und so geht das also dahin, in schlingernden Assoziationen und aneinander gefügten Beobachtungen, in Seiten- und Rösselsprüngen. Bodo Hell, Wortmodellierer und Gedankendrechsler, hat etwas geschrieben, was an den Steirischen Mandlkalender erinnert. Tatsächlich kommt Bodo Hell schon auf der ersten Textseite auf diesen Überrest der Analphabetenliteratur zu sprechen. Der Mandlkalender ist ein Bild-Symbolbuch für nicht-buchstabenkundige Leser. Die kommen freilich nicht weit bei Bodo Hell, denn seine Gedankenketten setzen schon Leser mit langem Atem und einem gewissen Durchhaltevermögen voraus.
Es geht durchs Jahr, durchs, wenn man so will, bäuerliche Jahr. Jedenfalls durch einen Jahrlauf, der gegliedert ist von Festen und Feiern, von Heiligengedenktagen und verschiedenen Einschnitten, die dem Einheitsbrei des Alltagstrotts entgegen wirken. Bodo Hell ist nicht nur ein Literatur-Intellektueller. Sommersüber verdingt er sich seit mehr als 25 Jahren als Senn auf der Grafenbergalm. Da wacht er über die Tiere der Bauern unten im Tal, und den Leuten in der Ramsau und im Ennstal schaut Bodo Hell manche Lebensweisheit ab (und nicht nur ihnen). Dass Bräuche eben etwas sind, was man gut gebrauchen kann - das steht gleich auf der ersten Buchseite. Bauernregeln, Heiligenlegenden, Beobachtungen zur Volksfrömmigkeit, zur Pflanzenheilkunde: Bodo Hell interessiert sich für Vielerlei, er ist ein aufmerksamer Zuhörer, Notizensammler und Glossierer. Aus den "aufgeschnappten" Sentenzen, aus allerle Merk- und Denkwürdigkeiten formt er seine uns durch den Jahrlauf geleitende folkloristisch-literarische Tag-für-Tag-Philosophie. Reichlich verschroben, altväterlich? Ja, aber Traditionsbewusstsein in so krativer neuer Durchmischung hat auch was. Auch aus verqueren, fast kindischen Heiligenlegenden kann man - wie aus Märchen - üppige Lebensweisheit destillieren.
Linda Wolfsgruber hat das Buch illustriert, oder genauer: bildlich weiter gedacht. Sie lässt sich in ihren Zeichnungen und Radierungen von Alltagssituationen inspirieren, und so taucht auf, was ihr im jeweiligen Monat, in den jeweiligen Jahreszeiten "vor die Augen" gekommen ist. Die Bilder, die auf länglichen dreieckigen Streifen handgeschöpften Papiers gearbeitet sind, lehnen sich an die Tradition der Tupf- und Schweißtücher an, wie sie seit dem 13. Jahrhundert als schmückende Zutat am Knauf des Abt- und Bischofsstabs fixiert werden. Auch das: ein herzerfrischend-verquerer Zugang mit unserer christlich/katholischen "Leitkultur", die tiefer verwurzelt ist, als es manche Leute wahrhaben wollen. Von zugeben gar nicht zu reden.