In einer Zeit nebenan
BUCHBESPRECHUNG / OBERMAYR / DAS FENSTER
17/09/10 „Es gibt den einen Moment, aus dem das Unglück gemacht ist. Er schleicht sich in den Lauf der Zeit ein …, setzt das Uhrwerk einer eigenen Geschichte in Gang, die unsichtbar neben der bekannten Geschichte vergeht, bis die beiden wie Stier und Stierkämpfer aufeinandertreffen.“
Von Roman Gerold
Auf einer rastlosen Suche nach diesem Moment befindet sich der Protagonist in Richard Obermayrs Roman „Das Fenster“: „Ich hatte den Eindruck, dass im Haus etwas vorging, von dem wir längst ausgeschlossen waren, etwas, das gegen uns gerichtet war wie eine Verschwörung. Eines Tages brauchte es uns nicht mehr und bewegte sich von allein weiter, ausgestattet mit dem Leben, das wir ihm überließen, das wir selbst nicht nutzten.“
Es ist dies ein wesentliches Grundgefühl, das den Erzähler in Obermayrs Roman treibt. Es treibt ihn zur Erinnerung an eine Zeit im Elternhaus, als das Unglück noch kaum bemerkbar war. Eines Tages hat die Mutter, eine Klavierlehrerin, Selbstmord begangen - doch warum? Wann hat das Leben jene Wendung genommen? Und wie haben es die Beteiligten geschafft, so beharrlich zu schweigen, während sich das Leben in geübte Handgriffe verwandelte und allmählich unter den Jahren begraben wurde?
„Das Fenster“ ist ein melancholisches Buch über die Zeit, das mit großer Formulierungskunst auch den zartesten Fäden zwischen Vergangenheit und Gegenwart nachspürt, immer im Bewusstsein, „dass mein eigenes Leben nicht ausreicht, um unsere Geschichte zu erzählen“ bzw. dass die Wurzeln des eigenen Lebens vielleicht in eine längst vergangene Zeit reichen.
Der Erzähler versteht sich dabei nicht als allwissender Psychologe, sondern als „Zeuge oder Verdächtiger“ einer Verhandlung, der in „immer neuen Anläufen und Wiederholungen seine Version vom Hergang der Tat vorträgt“ und dabei mit jedem Anlauf deutlicher macht, was er vermutlich verschweigen möchte. ‚Vermutlich‘, denn: „Wie soll man lügen, wenn man die Wahrheit nicht kennt?“
Angetrieben von einer diffusen Traurigkeit irrt der Erzähler also in immer neuen Anläufen durch ein Spiegelkabinett der Erinnerungen, auf der Suche nach der Bedeutung, die gewisse Augenblicke für ihn haben. Da gibt es zum Beispiel die sonntäglichen Ausflüge zur Pferderennbahn, den Zirkus, der alljährlich in die Stadt gekommen ist, Jagdausflüge mit dem Vater, das Klavierzimmer mit der Saturnin-Büste und jenes (titelgebende) Fenster, an dem die Mutter immer stand. Da gibt es das Buch mit der schönen Stelle, das die Mutter immer gelesen hat und die ewige Wiederholung einer unvollendeten Melodie. Mögen manche Motive auch klischeehaft anmuten, so schafft es der Autor größtenteils, einer lähmenden Bedeutungsschwere zu entgehen.
„Was gehört wohin?“ und „Welche Erinnerung gehört wem?“ fragt sich der Erzähler und strickt in flüchtigen Ahnungen aus seinen Motiven immer neue Konstellationen und Variationen. Da schlüpft schnell die Mutter in die Rolle eines Rennpferds oder jenes Fuchses, den Vater und Sohn gemeinsam durch den Wald hetzten. Oder: die Mutter bekommt endlich jene Rolle zugewiesen, die ihr in der Theatergruppe der Mutter Oberin verweigert worden ist. Da wird die Familie charakterisiert als „alt gewordene Zirkusartisten, die aneinander jede Schwäche kennen und um jede Bewegung des anderen wissen“: „da wir jahrelang in Nummern auftraten, die genaue Rücksichten erforderten“. Der Erzähler ist sich schmerzlich dessen bewusst, wie leicht man das Leben mit dem Tod verwechseln kann.
Die Komplexität ist erstaunlich und „Das Fenster“ ist sicher nicht das, was man gemeinhin unter einer "Urlaubslektüre" versteht. Jedenfalls aber ist es ein Buch, für das man einen Textmarker mithaben sollte, weil man darin auf unzählige ebenso unprätentiöse wie luzide Gedanken stoßen wird. Es ist auch ein Buch voller winziger Details, die mitunter zum kriminalistischen Herangehen reizen. Man darf sich allerdings nicht wundern, wenn so manche Spur aus dem Buch hinaus führt.