Schneeflocken im Kopf
BUCHBESPRECHUNG / BIRGIT MÜLLER-WIELAND / FLUGSCHNEE
19/05/17 Ein verschwundener Bruder und ein Familiengeheimnis. Der Schlüssel liegt verborgen in den Ereignissen an einem verschneiten Dezembertag zwanzig Jahre zuvor im Haus der Großeltern... Birgit Müller-Wieland geht in „Flugschnee“ der Frage nach, wie menschliche Traumata und Geheimnisse auch die nachfolgenden Generationen beeinflussen können.
Von Verena Resch
„Wenn unsere Vorfahren uns neben dem üblichen Genmaterial auch ihre Verletzungen und Traumata vererben: Was bedeutet das für unser Leben? Unsere Träume?“
Simon ist verschwunden, Lucys großer Bruder. Und für sie bricht eine Welt zusammen. Es gibt keine Hinweise auf seinen Verbleib, ein Gewaltverbrechen wird ausgeschlossen und auch den Verdacht der Polizei auf eine mögliche Radikalisierung kann niemand glauben. Die Wohnung sieht aus, als müsse er sogleich wieder bei der Tür hereinkommen und auch sein Smartphone hat er zurückgelassen. Für Lucy und ihre Eltern beginnt eine Suche nach Simon, handfeste Spuren gibt es jedoch kaum. Was Lucy nicht vergessen kann, ist das letzte Treffen mit ihrem Bruder, bei dem er sie nach einem Weihnachtsfest vor zwanzig Jahren fragt, nähere Erklärungen aber mit „du warst zu klein“ abwehrt. Trotzdem weiß Lucy instinktiv, von welchem Weihnachtsfest er spricht und versucht, sich daran zu erinnern, um so ihrem Bruder auf die Spur zu kommen.
„Als Kinder haben wir es nicht gemerkt, daß es in unserer Familie anders war. Aber später haben wir es wohl gespürt. Es war etwas zwischen den Erwachsenen, etwas Ungreifbares. Alles schien ihnen schwer zu sein, und alles war darauf ausgerichtet, es uns nicht merken zu lassen.“
Während der erste Handlungsstrang ausschließlich aus Lucys Perspektive erzählt wird und die belastete Beziehung zu den Eltern thematisiert, kommen im zweiten Strang, der sich zwanzig Jahre vorher an besagtem Dezembertag abspielt, die Großeltern Lorenz und Helene sowie die Eltern Arnold und Vera zu Wort und schildern den unerwarteten Besuch, die Geheimnisse, die aufgedeckt werden und jemand stirbt… Auf diesen beiden alternierenden Ebenen entfaltet sich sehr langsam, aber spannungsreich, die Geschichte der Familie.
Um die Entwicklung bis in die Gegenwart zu verstehen, spüren die einzelnen Familienmitglieder Erinnerungen nach, die weit in die Vergangenheit reichen. Das Sich-Erinnern ist ein großes Thema bei Birgit Müller-Wieland, davon zeugen die zahlreichen Rückblenden, die den Roman durchziehen. Erinnerungen sind hier jedoch stets etwas Fragiles, Unsicheres – bei Lucy, weil sie noch zu klein war, um sich an die Ereignisse im Haus der Großeltern zu erinnern; bei Helene, weil sie an einer beginnenden Demenzkrankheit leidet, vieles durcheinanderbringt und ein Gefühl von Schneeflocken im Kopf hat...
Der Schnee, dem der Roman auch seinen Titel verdankt, ist eines der vielen Motive, die ihn wie ein roter Faden durchziehen. Er steht stets für etwas Unheilvolles, besonders für den alles verändernden tief verschneiten Dezembertag, seit dem die Familienmitglieder versuchen, dem Schnee aus dem Weg zu gehen.
Obwohl sich die Handlung – trotz vieler „Cliffhanger“ – eher langsam und ohne Hektik entwickelt, wird die Spannung durch das rasche Alternieren der beiden Handlungsstränge während der gesamten Lektüre kontinuierlich hochgehalten.
Birgit Müller-Wieland: Flugschnee. Roman. Otto Müller Verlag, Salzburg 2017. 343 Seiten, 20 Euro - www.omvs.at
Birgit Müller-Wieland liest aus „Flugschnee“ beim Literaturfest am Samstag (20.5.) um 12.30 in der Galerie im Traklhaus. Elke Lazina wird ebenfalls an diesem Termin lesen, aus ihrem „dichtungen“ - www.literaturfest-salzburg.at
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