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Es war einmal und ist doch nie geschehen

BUCHBESPRECHUNG / IRIS WOLFF / SO TUN ALS OB ES REGNET

23/05/17 „Die Augen immer nach vorn, sagte Vicco, das Leben ist eine Einbahnstraße, wenn du glaubst, dass du wenden kannst, dann irrst du dich gewaltig.“ In „So tun, als ob es regnet“ nimmt Iris Wolff ihre Leser mit auf eine Motorradfahrt durch die Einbahnstraße des Lebens – und erhellt im Scheinwerferlicht die Frage, wie ein Leben zu dem wird, was es ist.

Von Christina König

Einen „Roman in vier Erzählungen“, so nennt Iris Wolff ihr neues Buch. Was im ersten Moment vielleicht verwirrend klingt, ist im zweiten die perfekte Bezeichnung: Die vier Erzählungen, die auch unabhängig voneinander stehen könnten, verbinden sich miteinander zu einer Familiengeschichte über vier Generationen, die nicht nur von Individuen erzählt, sondern von einem ganzen Jahrhundert.

Der Protagonist der ersten Erzählung ist Jacob, ein Soldat im ersten Weltkrieg. Hin und her gerissen zwischen der verträumten Schönheit der Karpaten, durch die er mit seiner Truppe zieht, und den brutalen Kriegshandlungen, die das Wasser der Gebirgsflüsse rot färben, wird er zur Erholung zu einer dort ansässigen Bauernfamilie geschickt. Mit der verheirateten Bauersfrau zeugt er in seiner letzten Nacht Henriette, die Protagonistin der zweiten Erzählung.

Als introvertierte Träumerin, die jeden Morgen den Sonnenaufgang beobachtet und die „Gesellschaft der Schlaflosen“ besucht, fühlt sie sich im eigenen Leben nie ganz zuhause. Erst die vornehm gekleidete Dame, die ihr einen Turmalin-Ring im Tausch gegen Lebensmittel überlässt, eröffnet ihr neue Perspektiven. Henriette wird zur weit gereisten, exzentrischen Frau mit zahlreichen kurzlebigen Liebesbeziehungen, die ihren Sohn Vicco lieber bei ihrer Schwester aufwachsen lässt und riskante Gedichte über die Grenze nach Deutschland schmuggelt.Vicco, begeisterter Motorradfahrer, nennt sie beim Vornamen, fühlt sich ihr fremd und ist eifersüchtig, wenn seine Freundin von ihr angetan ist. Seine Tochter Hedda steht ihrer Großmutter Henriette näher, erbt den Turmalin-Ring von ihr und auch das Fernweh: Sie lebt auf den Karibischen Inseln, sieht ihre Familie selten und macht sich Gedanken über das Paar, das nie von einer Bootsfahrt zurückkehrt.Verbunden sind die vier Generationen durch ihre Fluchten von der Realität, durch ihre geistige Abwesenheit und durch ihr Wandern in Gedanken. Sie „tun, als ob es regnet“ – so nennt es Jacobs Geliebte und Henriettes Mutter.

Wolffs Sprache hat einen poetischen Sog, dem man sich schwer entziehen kann. Egal, ob sie über die katzengoldhaften Steine am Meer schreibt, über Kriegsmanöver in Rumänien oder über die Streitigkeiten von vier Schwestern: Ihre Beschreibungen bestehen nicht aus Wörtern, sondern aus Bildern und Klängen, die den Leser eintauchen lassen in die Welt des zwanzigsten Jahrhunderts. Durch den Roman ziehen sich immer wieder Metaphern für eine ungewisse Zukunft, für die Orientierungslosigkeit im eigenen Leben, die Wolff meisterhaft einwebt: Die Scheinwerfer von Viccos Motorrad erhellen nur einen Teil der Dunkelheit. Als Hedda und Henriette auf einer Terrasse sitzen, verwehrt ihnen der Nebel die Sicht. Und Henriette rückt immer wieder Viccos Möbel um, bis diesem das eigene Kinderzimmer fremd wird und er die Tür nicht mehr findet.

Dieses Ungewisse verbindet alle Charaktere. Gleichzeitig wird gezeigt, wie kleinste Ereignisse die Zukunft eines Menschen verändern können: Eine heimliche Liebesnacht begründet Familien, ein Ring eröffnet einen neuen Lebensweg und die Entscheidung, zu einer bestimmten Zeit ein bestimmtes Boot zu nehmen, ändert alles. Diese kleinen Ereignisse stehen neben den großen der Weltgeschichte wie der ersten Mondlandung, aber weniger als Kontrast, sondern vielmehr als gleichberechtigte Geschehnisse, die, jedes auf seine Weise, das Leben der Menschen beeinflussen. Wolff stellt die Nebenfiguren der Weltgeschichte ins Zentrum, so wie das auch Henriette tut, wenn sie Märchen erzählt und die Königstochter links liegen lässt, sie zeigt die ganz normalen Menschen, die auf ihre Weise einen ebenso wichtigen Beitrag dazu leisten wie die, deren Füße als erste den Mond berühren. Und sie stellt die Frage, die alle Möglichkeiten offenlegt: Was wäre, wenn …?

Iris Wolff: So tun, als ob es regnet. Roman in vier Erzählungen. Otto Müller, Salzburg, 2017. 166 Seiten, 18 Euro - www.omvs.at
Iris Wolf liest am Mittwoch (24.5.) um 20 Uhr in der Panoramabar der Stadtbibliothek aus „So tun, als ob es regnet“. Ebenfalls an diesem Termin liest Mario Schlemmbach aus seinem Roman „Dichtersgattin“. 
Zur dpk-Besprechung von Dichtersgattin Hubert, jetzt sag was!

 

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