Die Nase hoch beim Übersetzen
NEU IM KINO / DIE FRAU MIT DEN FÜNF ELEFANTEN
28/09/10 Regisseur und Drehbuchautor Vadim Jendreyko porträtiert mit Swetlana Geier die wichtigste Übersetzerin aus dem Russischen ins Deutsche. Sie hat in den letzten 15 Jahren die fünf großen Romane Dostojewskis - genannt die fünf Elefanten - neu übersetzt.
Von Michael Russ
Die 86jährige Swetlana Geier wirkt auf den ersten Blick wie eine durchschnittliche deutsche Pensionistin. Auffällig ist die stark gebückte Haltung, ihre Wirbelsäule scheint an der Schulter einen 90-Grad-Knick zu vollziehen. Davon unbeeinträchtigt wuselt sie über den Markt, wählt aus, kauft ein. Dann eilt sie nach Hause, Enkel und Urenkel sind eingeladen, es gilt für die große Schar zu kochen.
Dass 86jährige Frauen für die Familie groß aufkochen wird wahrscheinlich nicht so häufig vorkommen, aber das ist nicht das wirklich Außergewöhnliche an Svetlana Geier. Sie ist die Übersetzerin für russische Literatur, lehrt immer noch an der Universität und hat offensichtlich unerschöpfliche Energien. Morgens um 9 Uhr erscheint ihre Freundin und Mitarbeiterin Hanna Hagen und tippt in die Maschine, was die Übersetzerin ihr diktiert. Am Abend hat Frau Geier sich auf das Pensum des Tages vorbereitet, sie verinnerlicht den Text und hat doch immer den Wahlspruch einer ihrer Lehrerinnen präsent: „Die Nase hoch beim Übersetzen!“ Das heißt: Nicht total am Text kleben, sondern den Kopf immer wieder heben und auch auf Klang und Melodie der Übersetzung achten.
Vadim Jendreyko begleitet Svetlana Geier und ihre Enkelin Anna Götte auf einer Zugreise nach Kiew, als Frau Geier das erste Mal nach ihrer Flucht 1943 ihre Heimatstadt besucht. Dort ist sie 1923 auf die Welt gekommen, hat früh Deutsch und Französisch gelernt und hat mit 15 Jahren sechs Monate lang ihren Vater gepflegt, der im Zuge einer Säuberungswelle 18 Monate im Gefängnis saß und ein halbes Jahr nach seiner Entlassung an den Folgen der Folterungen starb. 1941 erobern die Deutschen Kiew und werden als Befreier von stalinistischer Willkür gefeiert. Svetlana arbeitet als Dolmetscherin für die „Deutsche Brückenbau“. Als die Rote Armee Kiew 1943 zurückerobert flieht, sie mit ihrer Mutter nach Berlin, erhält durch Vermittlung der „Deutschen Brückenbau“ einen Fremdenpass und kann in Freiburg im Breißgau studieren. Sie wird Lektorin an der Universität Freiburg, heiratet, hat zwei Kinder und startet eine eindrucksvolle Übersetzer-Karriere. Noch heute unterrichtet sie an den Universitäten Karlsruhe und Freiburg.
Die Reise nach Kiew weckt zwar viele Erinnerungen, sie fühlt sich aber weiterhin Deutschland stärker verpflichtet als der Ukraine. Sie hat das Gefühl ihrer zweiten Heimat etwas schuldig zu sein. Durch ihre Arbeit versucht sie diese Schuld abzutragen. Imposantes Zeugnis dieser Arbeit sind die fünf dicken Dostojewski-Bände aus dem Amman-Verlag, die Svetlana Geier geschaffen hat. Und obwohl sie die Texte so gut kennt wie nur wenige, entdeckt sie darin immer wieder etwas Neues. Das ist das, was gute Literatur für Svetlana Geier ausmacht.