Viel-zu-Gutmenschen
GRAZ / DIAGONALE / ME, WE
10/16/21 Das Me ist eindeutig: Wer von uns selbsternannten Gutmenschen möchte Flüchtlinge und andere Migranten denn nicht gerettet, aufgenommen und integriert sehen? Am We hakt es dann aber nicht selten. Der xenophobe Teufel sitzt im Detail. Me, We, am Mittwoch (9.6.) uraufgeführt bei der Diagonale in Graz, ist ein Film übers grandiose Scheitern hehrer Ideale.
Von Reinhard Kriechbaum
Die Journalistin Petra (Barbara Romaner) scheint den Lotto-Sechser gezogen zu haben mit dem siebzehnjährigen syrischen Flüchtling Mohammed. So gut scheint er drauf als hoffnungsvoller Neo-Österreicher. Voller Ambition geht sie mit ihm in eine Schiele-Ausstellung. Sie sieht in den Gemälden die Seele der dargstellten Menschen – er aber nur nackte Frauen. Es gehe eben ums Erkennen der Seele, der Befindlichkeit, erklärt sie ihm. Er kontert entwaffnend: „Dann zieh Dich aus.“ Meine absolute Lieblingsszene in dem Film von David Clay Diaz.
Eine Geschichte über Flüchtlinge, so der Ansatz des in Paraguay geborenen, längst in Wien eingebürgerten jungen Filmemachers „können wir ehrlicherweise nur aus unserer europäischen Perspektive erzählen“. Und so sind die Flüchtlinge in diesem Film nur die stichelnden Stichwortbringer. Gestochen werden die vermeintlichen Gönnerinnen und Gönner, die an sich selbst scheitern, weil ihre Motivation deutlich in Schieflage kommt. In vier Beispiel-Geschichten, die gar nicht weit hergeholt wirken, platzt das Gutmenschentum wie ein angestochener Luftballon.
Da ist etwa Marie (Verena Altenberger). Sie bricht auf, um in der Ägäis mitzuhelfen, Flüchlinge aus dem Wasser zu fischen. Aber wird sie mehr sein als eine Goodwill-Rucksacktouristin? Wahrscheinlich wäre sie in einem kreativ-Camp besser am Platz als auf einem NGO-Schiff. Es ist eben etwas anderes, vor dem Gemeindebau pseudo-indigen die Trommel zu rühren als mit den Schwierigkeiten vor Ort konfrontiert zu sein.
Gerald (Lukas Miko) leitet ein Asylheim. Ein Kreuz hat er über dem Schreibtisch hängen und ein zweites baumelt an der Halskette. An seinen hehren Absichten ist ebenso wenig zu zweifeln wie an jenen von Marie. Die Toleranz-Bewährungsprobe angesichts eines ihn herausfordernden Schwarzen verliert er trotzdem ganz jämmerlich. Petra, die unsere Kultur mit Schiele und lateinamerikanischem Tanz auslebt, kommt mit ihrem vermeintlichen Jugendlichen Mohammed sexuell ins Strudeln. Glücklicherweise ist der junge Mann in Wirklichkeit weder Syrer noch Siebzehn. Also wenigstens kein Techtelmechtel mit einem minderjährigen Schutzbefohlenen...
Gegenüber diesen „Fällen“ ist die vierte Story geradezu rührend burlesk. Die halbstarken Freunde rund um Marcel (Alexander Srtschin) sehen im Freibad manch „unsrige“ Mädchen von „Ausländern“ umschwärmt. Das fördert die rechte – die rechte! – Gesinnung der jungen Männer und sie gründen eine Begleit-Agentur. Mit der „Schutzengel AG“ erleiden die vier freilich genau so Schiffbruch, weil die Mädchen gar nicht so recht beschützt werden wollen von den Knilchen, die mit Neonazi-Ideen liebäugeln.
Letztlich also scheitert, aus unterschiedlichen Gründen, das We am Me. Die verinnerlichte Mentalität der Ich-AG stellt der selbstverordneten integrativen Ethik irgendwann doch das Bein. Dass ist eigentlich ein menschliches und politisches Trauerspiel, aber dieses Genre kennzeichnet per Definition ja auch ein „Lächeln unter Tränen“. Man sagt's nicht gerne, aber David Clay Diaz und sein Co-Autor Senad Halilbašić haben ziemlich gut beobachtet und extrem lebensnahe Geschichten mit Mutterwitz entworfen.
Die hochrangige Schauspieler-Besetzung macht sich bezahlt. Wer wollte Verena Altenberger nicht die Daumen halten, wenn sie mitten in der Nacht im Beiboot ausrückt, um endlich Flüchlinge aus dem Meer zu holen? Beim lustvollen Fabulieren sind die Filmemacher gelegentlich übers Ziel hinaus geschossen. Worauf die Sache hinausläuft, hat man ja in allen vier Fällen schnell durchschaut, und so wirken die 115 Minuten Filmlänge gar ein wenig üppig. Da und dort nochmal die Schere anzusetzen, würde die Wirkung wahrscheinlich noch steigern.