1900 für Arme
NEU IM KINO / BAARÌA
04/05/10 Giuseppe Tornatore versucht in Baarìa die Geschichte seiner sizilianischen Heimatstadt von 1930 bis in die Gegenwart nachzuzeichnen. Dafür reichen 150 Minuten nicht wirklich aus. Von Anlage und auch von der Filmmusik (Ennio Morricone) her erinnert "Barrìa" an einen Streifen aus den 1970ern, wo aber mit Bertoluccis „1900“ ein übermächtiger Gegner zu Hause ist.Von Michael Russ
Der kleine Peppino läuft an einem Sommertag in den 1930ern durch seinen Heimatort Baarìa, um für einen Bekannten Zigaretten zu kaufen, wird immer schneller, hebt ab und schwebt über das sizilianische Städtchen. Diese Szene gibt das Tempo des Filmes von Regisseur und Drehbuchautor Giuseppe Tornatore vor, der hier die Geschichte seiner Heimatstadt Bagheria (Baarìia im regionalen Dialekt) erzählt.
Peppinos Angehörigen leben als Kleinbauern und Schafhirten am Rand des Ortes, sein Vater kann im Gegensatz zu vielen anderen Bewohnern des Ortes lesen und versucht auch seine beiden Söhne zum Lernen anzuhalten. Peppinos Lernanstrengungen werden von einer Ziege gestoppt, die sein Schulbuch frißt. Aber Peppino weiß sich zu helfen, beobachtet seine Umwelt aufmerksam, erkennt die ungerechten Umtriebe der Faschisten und der Mafiosi. Der Weltkrieg geht auch an Baarìa nicht spurlos vorüber, Männer müssen einrücken, Bomben verirren sich auch in das strategisch unbedeutende Städtchen. Nach Kriegsende tritt Peppino der Kommunistischen Partei bei, weil er hofft, dass die Kommunisten das Leben der Taglöhner und Kleinbauern verbessern werden. Er wird Parteifunktionär und steigt langsam in der Hierarchie nach oben.
Im Privatleben gelingt es ihm gegen den Widerstand ihrer Eltern Mannina (Margareth Madé) zu erobern und zu heiraten. Das Leben ist schwer, Peppino (Francesco Scianna) verdient als Funktionär nichts, muss sich mit mehr oder minder legalen Gelegenheitsarbeiten über Wasser halten. Bald haben sie vier Kinder, die Schwiegermutter muss immer wieder Geld zuschießen, damit die Familie über die Runden kommt. Die Kommunisten liefern sich gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei oder der Mafia, was auch private Sorgen bereitet. Aber im Lauf der Jahre verbessert sich das Leben, Baarìa wächst und damit auch die Chancen für seine Bewohner.
Giuseppe Tornatore legt seinen Film sehr breit an, versucht in den 150 Minuten Stoff für einen Mehrteiler unterzubringen. Er setzt bei seinen Zuschauern einiges an zeitgeschichtlichem Wissen voraus – Faschisten, Großgrundbesitzer und Mafiosi sind schwer zu unterscheiden und haben nur die Funktion, Gründe für Peppinos Beitritt zu den Kommunisten zu liefern. Eine Reise in die heilige Sowjetunion muss er sich hart erkämpfen, nach der Rückkehr erklärt er einem Freund: „Ich habe viel Schreckliches gesehen.“ Und das war es, es gibt weder Erklärungen noch Konsequenzen.
Das Privatleben wird etwas detaillierter abgehandelt, obwohl es auch hier gewaltige Zeitsprünge gibt. Positiv ist anzumerken, dass Tornatore es immer wieder schafft etwas Humor in seinem Film unterzubringen. Trotz des „Der Traum ein Leben – das Leben ein Traum“-Rahmens erinnert der Film von der ganzen Anlage und auch von der Filmmusik (Ennio Morricone) her an einen Streifen aus den 1970ern, wo aber mit Bertoluccis „1900“ ein übermächtiger Gegner zu Hause ist.