Ein Philosoph und Musik-Universalist
TODESFALL / RENÉ CLEMENCIC
11/03/22 Es ist eine gute Weile her, dass ich dem Musiker, Komponisten und Universalgelehrten René Clemencic in seiner Wohnung gegenüber gesessen bin – und mehr als überrascht war: Fand ich mich doch nicht umzingelt von Musikinstrumenten, sondern von bildender Kunst.
Von Reinhard Kriechbaum
Ein Schüttbild von Hermann Nitsch, davor der überdimensionale Kopf einer Buddhastatue aus dem 6. Jahrhundert, Skulpturen außereuropäischer Völker, Statuen aus dem Barock und aus dem 19. Jahrhundert. Eine Kupelwieser-Madonna über einem taoistischen Kultgegenstand? „Ich finde, dass sich das herrlich gegenseitig bereichert und ergänzt. Es entspricht meiner Sehnsucht, möglichst Verschiedenes zu verbinden“, sagte Clemencic mit leuchtenden Augen.
1957 gründete Clemencic das Ensemble Musica antiqua, aus dem dann der Clemencic Consort hervorgegangen ist. Von 1996 und 2005 leitete er im Wiener Musikverein den legendären Musica-Antiqua-Zyklus, im Musikverein gestaltete er er auch bis vor wenigen Jahren einen eigenen Zyklus seines Consorts. Als Komponist schuf er unter anderem das Oratorium Kabbala in hebräischer Sprache (1992), Apokalypsis (1996), die Kammeroper Der Berg nach einem Text von Konrad Bayer (2003) und die Operette Monduntergang (2007). Sogar als Theater- und Filmkomponist hat er sich betätigt, etwa für den Film Moliere von Ariane Mnouchkine. Am Mittwoch (8.3.) ist René Clemencic im Alter von 94 Jahren gestorben. Hier in Auszügen das Interview, das ich mit dem damals Achtzigjährigen führte.
Reinhard Kriechbaum: Sie spielen Blockflöte und Clavichord, Sie dirigieren und komponieren: Was davon ist Ihnen eigentlich das Wichtigste?
René Clemencic: Das Komponieren, das ist für jeden Musiker das Wichtigste.
Hatte die Beschäftigung mit alten Instrumenten auf Ihr Komponieren einen Einfluss?
Nein, überhaupt nicht. Außer vielleicht die Blockflöte, aber nicht als „altes“ Instrument, sondern als modernes. Es geht mir beim Musikmachen nicht umÄsthetik. Ich versuche nicht zu „erfinden“, sondern hörbar zu machen, was ohnedies vorhanden ist, wobei mir stilistische Dinge völlig gleichgültig sind. Ich arbeite sehr viel mit Solmisationstechnik, auch mit kabbalistischen Zahlenproportionen. Es geht mir immer darum, das Wesentliche der Welt hörbar zu machen.
Da klingt der Philosoph durch – schließlich haben Sie in Wien und auch an der Sorbonne in Paris Philosophie studiert. Wie sind Sie dann eigentlich zur Musik gekommen?
Ich bin immer bei der Musik gewesen und habe schon vor Abschluss der Matura Musik studiert, Klavier und Flöte. Es war von vornherein klar, dass ich die Musik als Beruf wählen werde. Ich wollte das Philosophiestudium nur als Ergänzung der Persönlichkeit machen. Musik war immer das Zentrum. Man hat mir sogar einen Lehrstuhl für außereuropäische Philosophie angeboten, aber ich habe das ohne zu zögern abgelehnt.
Gibt es eine innige Verbindung zwischen dem Kunstsammler und dem Musiker René Clemencic?
Es ist natürlich die gleiche Persönlichkeit, aber nicht so, dass ich versuche, das einander anzugleichen. Ich bin ein leidenschaftlicher Sammler von Skulpturen. Aber ich würde nie eine Skulptur kaufen, weil sie mich an eine bestimmte Musik erinnert. Es geht mir darum, alle Zeiten und alle geographischen Gegenden zusammen und in einen Dialog zu bringen. Ich finde das viel aufregender als fünftausend griechische Vasen zu sammeln – und am Ende sieht man nichts mehr, weil man total überfordert ist. So war es ja auch im Leben der Vergangenheit nicht.
Wenn man den legendären „Musica antiqua“-Zyklus im Wiener Musikverein ansieht, findet man eigentlich keinen roten Faden: Sie stehen ganz für das Gegenteil von „Spezialistentum“.
Ich kann mich nicht spezialisieren und will es nicht. Ich lebe heute, und das wäre eine Einengung. Darum mache ich auch in jedem Jahr ein Mittelalter-, ein Renaissance- und ein Barock-Programm.
Keine Linie?
Nein! Wahnsinnig gern würde ich Wagner dirigieren, aber dazu bedarf es wohl jahrelanger Übung und spezieller Erfahrung. Für mich ist Wagner einer der Größten. Das hat auch damit zu tun, dass er wie ich in meinen Werken über das Ästhetische hinaus etwas Metaphysisches, Sakrales suchte. Er wollte ja eine Buddha-Oper schreiben.
Hat dieser weite Horizont mit ihrer Herkunft zu tun? Sie kommen ja aus einer typischen Familie der Monarchie mit weit verzweigten Wurzeln, haben mit Ihrem Vater nur Italienisch und mit Ihrer Mutter nur Deutsch gesprochen?
Diese „nationale Polyphonie“ ist in Wien nichts Außergewöhnliches. Meine Wurzeln reichen nach Istrien, Slowenien, Mähren, Polen. Der Begründer der Germanistik, Karl Lachmann, war ein direkter Vorfahre mütterlicherseits.
Welchen Stellenwert hat das Clavichord bei Ihnen?
Es ist mir in den letzten zehn, fünfzehn Jahren eines der allerwesentlichsten Dinge geworden, weil ich ein altes, wunderschönes Instrument habe, das gut reisefähig ist: ein Original vom Ende 17./Anfang 18. Jahrhundert. Es ist unorthodoxer Weise ungebunden und einchörig. Vor einem halben Jahrhundert habe ich es bei einem Antiquitätenhändler in der Wiener Himmelpfortgasse gekauft. Gerade bereite ich mein 21. Soloprogramm vor: Stücke von Andrea Gabrieli – wann hört man die schon? Auf dem Clavichord kann ich mich am besten von allen Tasteninstrumenten ausdrücken. Aber ich spiele ausschließlich Literatur aus dem 15. und 16. Jahrhundert. Man könnte auch Haydn darauf spielen, aber das machen schon genug andere.
Und die Blockflöte?
Blockflöte spiele ich natürlich in vielen Programmen des Clemencic Consort. Das Soloprogramm „Flauto magico“ führt vom Mittelalter bis zur Avantgarde und kombiniert die verschiedensten Flöteninstrumente. Im Duo musiziere ich mit dem persischen Musiker Esmail Vasseghi. Er spielt Santur (das persische Hackbrett), Trommel und singt auch.
Wenn Sie auf ein halbes Jahrhundert Alte Musik zurückblicken – was sind die größten Veränderungen?
Vor allem das technische Können ist in ungeahntem Ausmaß gewachsen. Der Zink ist das beste Beispiel. Er hat als fast unspielbar gegolten, und jetzt gibt es fast 15 Virtuosen auf der ganzen Welt, die alles spielen können – und sauber.
Ihr Interesse an Alter Musik hat – wie im Fall des fast gleichaltrigen Nikolaus Harnoncourt – Josef Mertin in Wien geweckt. Gab es eigentlich Berührungspunkte zwischen Ihnen und Harnoncourt?
Professor Mertin war ein wichtiger Anreger in Wien, der immer wieder davon gesprochen hat, dass man Instrumente sucht, die den alten entsprechen. Vielleicht haben Harnoncourt und ich dort zufällig miteinander musiziert. Mit Gustav Leonhardt hat es eine Studioaufnahme gegeben. Leonhardt hat mir einmal geschrieben, er wolle mit mir musizieren, aber ich habe nicht geantwortet … ich war damals in der Korrespondenz sehr nachlässig. Unmittelbare Kontakte zu Harnoncourt gab es überhaupt nicht. Warum auch immer, es hat sich nicht ergeben. Es ist jeder auf seine Art seinen Weg gegangen.