Erzählen, um sich selbst zu retten
IM PORTRÄT / MAHMOUD DOULATABADI
01/10/18 Der bedeutende iranische Epiker Mahmud Doulatabadi kommt nach Salzburg. Der Kontakt kam auf einer Reise österreichischer Schriftsteller in den Iran im Vorjahr zustande.
Von Andrea Nießner
Gheiss, der Protagonist des Romans „Nilufar“, irrt durch die Straßen einer Großstadt und ergeht sich in Erinnerungen an seine ehemalige Geliebte Nilufar („Seerose“): Eine wesentlich jüngere Frau, die ihm „wie eine Taube zugeflogen war“. Für beide hatte die Verbindung ein Gefühl uralter Freundschaft ausgelöst, ein Sich-Wiedererkennen. Doch die Liebe ist gescheitert: an starren Regeln der Tradition, an familiären Zwängen und Erwartungen, und an der eigenen Unzulänglichkeit.
Die Reminiszenzen an seine Geliebte, die inneren Monologe, in denen Mahmud Doulatabadi Sprache, Figuren und Erzählperspektiven wie in einem Teppich kunstvoll miteinander verwoben hat, können als Hymne an eine Geliebte, aber auch als Suche nach dem eigenen Ich angesehen werden, als philosophische Betrachtung der menschlichen Existenz, als Konfrontation mit Ängsten und dem Älterwerden: „Jedes Mal, wenn sie in mein Inneres eindrang, in mein verdrießliches Schweigen, enthäutete und erneuerte ich mich. Dieses Zusammenspiel der Wolke und der Sonne war wie ein Liebesspiel der Natur, das sich auf eine wundersame Weise entfaltete. Jeder Tag brachte neue Wunder. Sie war die einzige, die mein Schweigen, das Schweigen des Alterns, die langjährige Trauer, aber auch den jugendlichen Zorn in mir begriff.“
Geboren am Rande der Wüste im Nordosten Irans, wuchs Mahmud Doulatabadi mit neun Geschwistern auf. Schon in der Grundschule hatte er den Reiz des Lesens entdeckt. Sein Vater, ein einfacher Schuhmacher und Liebhaber persischer Literatur (vertraut mit Ferdowsi, Saadi und Hafez), unterstützte seinen Sohn, der bereits im zarten Alter von 13 Jahren sein Heimatdorf verließ. Mahmud Doulatabadi arbeitete als Schafhirte, Baumwollpflücker, Velomechaniker und Friseur, sowie in einer Druckerei, und bestand mit 20 Jahren die Aufnahmsprüfung in die Theaterakademie in Teheran, obwohl er kein Abitur gemacht hatte. Zu dieser Zeit begann er auch zu schreiben. Während der Aufführung eines Stücks von Gorki wurde er 1975 von der Bühne weg aus politischen Gründen verhaftet und mit einem Schreibverbot belegt. Nach zwei Jahren Gefängnis widmete er sich ganz der Literatur. Er lebt in Teheran und wurde 1999 mit dem Preis „20 Jahre iranischer Roman“ ausgezeichnet. Das Preisgeld überließ er den Familien zweier ermordeter Schriftsteller. 2013 erhielt er in der Schweiz den Jan Michalski-Preis.
In seinem Hauptwerk „Kelidar“ thematisiert Doulatabadi in atmosphärischer Dichte die Lebenswelt der kurdischen Nomaden. Zwei Bände des zehnteiligen Werks erschienen 1997 auf Deutsch im Unionsverlag Zürich. Weiters: „Die alte Erde“, „Der leere Platz von Ssolutsch“, „Die Reise“, „Nilufar“ und „Der Colonel“ (durfte im Iran nicht erscheinen), ein düster gezeichnetes Werk über die Zeit der Revolution 1979 und ihre geschundenen Opfer. „Angesichts der Katastrophe bleibt nichts, als auf eine persische Tugend zurückzugreifen: erzählen, um sich selbst zu retten, wie einst Scheherazade“, sagt der Autor.
Die Einladung des Schriftstellers nach Österreich wurde von Bodo Hell (im Bild mit Doulatabadi), Peter Gruber und Andrea Nießner im Okt. 2017 ausgesprochen, als im Zuge des bilateralen Projekts „Literatur und Lebenswelt Alm“ ein privater Besuch bei Mahmud Doulatabadi ermöglicht wurde. Das Projekt im Iran beinhaltete ein agrarwissenschaftliches Symposium an der Shahid Beheshti Universität in Teheran, Lesungen und einen Filmabend. Außerdem besuchte die kleine Delegation das Alborzgebirge und traf Bauern und Hirten, um sich ein Bild von der Almwirtschaft dort zu machen. Die ebenfalls teilnehmenden Botaniker Ernst Vitek (NHM Wien) und Jalil Noroozi (Uni Wien) führten die Gruppe in die Besonderheiten der iranischen Pflanzenwelt ein.