Gutmenschen, die über Leichen gehen
FESTSPIELE / YDP (2) / NOTRE TERREUR
05/08/10 Neun Herren im heftigen politischen Diskurs. Würden wir einem von ihnen einen Gebrauchtwagen abkaufen? Am ehesten noch dem Citoyen Robespierre - ausgerechnet er aber ist in den Geschichtsbüchern gelandet als einer, der Schindluder getrieben hat mit der Macht.
Von Reinhard Kriechbaum
An die 1600 Hinrichtungen aus politischen Gründen hat es gegeben in jenem Jahr des "terreur" 1773/74, als ein Grüppchen vermeintlich aufrechtester Demokraten angetreten ist, Liberté, Egalité und Fraternité auf Biegen und Brechen, auf Denunzieren und Morden umzusetzen. "Die Revolution frisst ihre Kinder", haben wir in der Schule gelernt. In dem Stück "Notre terreur" - einer Produktion der Pariser Gruppe "d'ore et dèjà" in der Regie von Sylvain Creutevault - wird vehement gefressen und selbstzerfleischt. Die Handlung beginnt mit der Hinrichtung des Danton und endet mit Robespierres Gang zur Guillotine.
Der zweieinhalbstündige Abend will aber gar nicht Nachhilfeunterricht in Geschichtswissen geben. Sylvain Creutevault und sein Ensemble ("Notre Terreur" ist echtes Gruppen-Theaterwerk) zielen in andere Richtung. Ihnen geht es um den posthumen Blick auf die Geschichte. Was für Fein- (und Grob-)Mechanismen sind da gelaufen innerhalb einer grundsätzlich idealistisch eingeschworenen politischen Gruppierung? Sind es Dinge, die sich auch heute wiederholen?
Über lange Zeit nehmen wir Teil an politischen Gesprächen an einem langen Tisch inmitten der beiden Publikums-Blöcke. Die neun temperamentvollen Herren könnte man sich irgendwo in Lateinamerika oder in einem der kommunistischen Nachfolgestaaten vorstellen. Der Militärverantwortliche ist ein Heißläufer sondergleichen, der Polit-Rabauke Saint-Just auch nicht gerade ein Mann zurückhaltender Worte. Couthon, der als Dritter am Ende des "terreur" einen Kopf kürzer gemacht wurde, wird erst im Lauf der Entwicklungen seine Maske fallen lassen und das Gesetz verkünden, nachdem jeder politische Gegner ohne Rechtsbeistand erledigt werden kann. Und wieder ein anderer offeriert frische Brioches, gebacken von seiner Frau, die ihm später freilich abhanden kommt - und damit der Konferenz die willkommene Jause. Aber da haben sie ja schon über die Kartoffel als revolutions-genuine Lösung des Ernährungsproblems diskutiert, über die Offenlegung der Bankkonten von Angeordneten.
Es werden, wie man so schön sagt, die politischen Alltagserfordernisse "durchdekliniert". Und dabei erfahren diese Leute an sich selbst, dass sie als selbsternannte Gutmenschen im Grunde Spießer sind, Feiglinge, Intriganten. Wenn es darum geht, die eigene Karriere oder gar die eigene Haut zu retten, ist jeder sich selbst der Nächste - und Robespierre, Saint-Just und Couthon sind in dieser Gruppe nicht Erzschurken, sondern Bauernopfer.
Ein mühsamer Diskurs? Ja und nein. Wer Französisch kann, ist besser dran. Wer aufs Mitlesen der Übertitel angewiesen ist, hat in diesem rasanten Text-Bombardement schlechte Karten. Ihm entgehen brillante schauspielerische Charakterisierungen, gestische Zitate und Anspielungen sonder Zahl. Davon lebt diese Aufführung nämlich. In einer tollkühnen Montage wird mit Bildern und Worten (bis zu "Faust") jongliert. Nicht wenig Ironie steckt in der ideologischen Steinbruch-Arbeit, rasante verbale Querschläge entlarven Worthülsen und pathetische Sentenzen. Die Handelnden sind nicht zu Bühnenfiguren mutierte Denkmäler, sondern Leute aus Fleisch und Blut, die über ihre Macken, Eitelkeiten und Unbeherrschtheiten stolpern. Da kippen sie aus ihren vermeintlich hehren Idealen und landen im Tiefparterre des politischen Gezänks. Schließlich ist jeder ein Muster-Demokrat in eigener Sache und geht dafür über Leichen.
Das ist so plakativ wie detailgenau gearbeitet, jede Figur ist durchgezeichnet wie mit der spitzen Feder eines Honoré Daumier. Nach zweieinhalb Stunden hat man als Zuschauer zwar den Kopf übervoll, aber man ist auch ordentlich unterhalten worden. Immer wieder wird die Stimmung durch spontanen Witz gebrochen. Ja, man darf lachen, auch wenn dickflüssiges Theaterblut fließt. Gegen Ende übergießt sich Robespierre mit weißer Farbe, ein Radikal-Weißclown, ein Grand Guignol auf dem unvermeidbaren Weg erst zum Diktator und dann zur Guillotine. Wie eine Puppe auf einer Spieluhr dreht er sich, in Demagogen-Pose. Ein Getriebener, dem die falschen Freunde eingeredet haben, er müsse die Situation retten, indem er sich als Autokrat geriert.
Der Polit-Diskurs im knatternden Mündungsfeuer philosophischer Betrachtungen hat gelegentlich Längen, aber er entwickelt erstaunlicherweise auch einen dramaturgisch starken Sog. Daran haben beinah unverschämt banale Theater-Mittel ebenso Anteil wie einprägsame schauspielerische Leistungen und vor allem die Sprachpräzision. Unprätentiös die Ausstattung: eine lange Reihe von schlichten Tischen, ein paar Weinflaschen, Sandwiches. Und die Brioches, die das Grüppchen der aufrechten Schreckensverbreiter ebenso einbüßt wie alle Unschuld.