Dr. Hohenadl trinkt Ersatzkaffee
SATIRE
27/10/23 Zu Hause trank er Kafeeersatz. Warum er umsattelte? Darüber gibt es zwei Versionen. Dr. Hohenadl glaubte eines Tages, den Bohnenkaffee, nicht mehr zu vertragen. Er war überzeugt, die im Kaffee enthaltenen Reizstoffe schädigten seine Magenwände auf bedrohliche Art.
Von Werner Thuswaldner
Eine plastische Eingebung, in der er ein Bild seiner angegriffenen Magenwände ganz aus der Nähe sah, verfolgte ihn bis in den Schlaf. Im Internet suchte er nach Argumenten, die seine Annahme stützen sollten. Er fand sie. Besonders tückisch schien als Bestandteil des Kaffees die Carbonsäure-Hydroxy-Tryp-tamide CHT zu sein. Darüber informierte ihn eine aufschlussreiche Studie. Sie berichtete über einen Versuch mit Ratten, denen eine Konzentration von Kaffeereizstoffen verabreicht wurde. Die Dosis entsprach der Menge, die in sechshundert Tassen Kaffee enthalten ist. Prompt fühlten sich die Ratten danach nicht wohl. Grund genug für Dr. Hohenadl, mit Bohnenkaffee Schluss zu machen.
Das sollte aber nicht heißen, er verachtete oder verdammte den Kaffeegenuss. Nein, er war nach wie vor stolz darauf, welchen Mythos die Wiener aus den schlichten Bohnen und dem Duft, den sie nach dem Rösten verströmten, im Lauf der Jahrhunderte entwickelt hatten. Die Vielfalt der Getränke dokumentierte ja nichts Anderes als die unzähligen Versuche beharrlicher Genussexperten, möglichst viel von der Magie, die in den schwarz-braunen Bohnen steckte, einerseits zu entfesseln, andererseits in gezielte Bahnen zu lenken.
Was in Dr. Hohenadl vorging, hatte die Dimension eines tiefenpsychologischen Konflikts. In Wahrheit war der Kaffee nämlich seine Leidenschaft. Er konnte sich gut vorstellen, im Kaffeehaus zu leben und dort die Zeit mit Nichtstun zu verbringen. Es wäre ihm egal, wegen des extremen Kaffeegenusses zu einem zitternden Wrack zu werden. Was ihn daran hinderte, war seine katholische Erziehung und die Angst zu verarmen. Schon früh hatte er gelernt, sich zu disziplinieren und sich zu kasteien. Daher gönnte er sich nur ganz selten einen Kaffeehausbesuch, um lang bis zur Peinlichkeit bei einem Kleinen Braunen zu sitzen. Wenn jemand kam und fragte, ob der Platz neben ihm frei, bejahte er mit Freuden. Denn im Unterschied zu ihm bestellte der neue Nachbar dann eine richtige, große, starke Tasse Kaffee und wenn der dann serviert wurde, wehte etwas von dem betörenden Duft auch zu Dr. Hohenadl, der ihn mit einem Lächeln im Gesicht dankbar in sich einsog.
Dr. Hohenadl sagte sich die Gründe für seinen Kaffeeverzicht mit Nachdruck vor. Gerade recht kam ihm ein Zeitungsartikel, in dem geschildert wurde, wie die Kaffeebauern in Äthiopien von mächtigen Konzernen unter Druck gesetzt und ausgebeutet werden. Für ein halbes Kilo einer Spitzensorte, die bei uns bis zu sechsundzwanzig Euro kostet, bekommen sie gerade einmal 60 Cent. Freilich hätte Dr. Hohenadl auf fair gehandelten Kaffee ausweichen können. Das kam aber für ihn als einen auf Sparsamkeit bedachten Menschen nicht in Frage.
Die zweite Version der Gründe, warum Dr. Hohenadl umsattelte, basierte auf dem unabdingbaren Willen, durch seine Lebensweise keine unnötigen Kosten zu verursachen. Manche seiner Bekannten sprachen hinter seinem Rücken von Geiz. Kaffeeersatz war erheblich billiger als echter Bohnenkaffe. Das brachten Dr. Hohenadls umfangreichen Recherchen und Berechnungen eindeutig an den Tag. Er durchstreifte die Läden und staunte über die Vielfalt des alternativen Angebots. Als die Alchemisten einst aus den verschiedensten Stoffen Gold herstellen wollten, sind sie vermutlich ähnlich vorgegangen wie jene, die nach einem Ersatz für Bohnenkaffee suchten. Alles, was ihnen an Vegetabilischem in die Hände fiel, wollten sie in Kaffee verwandeln: Gerste, Dinkel, Roggen, Zichorie, Feigen, Bucheckern, Eicheln, Löwenzahn. Am Schluss seiner mehrwöchigen Tour war er ein Experte.
Dr. Hohenadl verglich. Aber nicht nur geschmacklich. Der Geschmack stand auf der Prioritätenliste hinter dem Preis. Er war ein erfahrener Mann und setzte auf die Gewohnheit. Was ihm zunächst seltsam, vielleicht sogar scheußlich vorkommen würde, würde er wahrscheinlich über kurz oder lang als akzeptabel oder gar ein bisschen apart einschätzen.
Fündig wurde er schließlich nicht in einem der Supermärkte oder in einem der Nobelgeschäfte im Ersten Bezirk, sondern in einem sonderbaren, kleinen Laden in der Hofmühlgasse nahe dem „Auge Gottes“. Dr. Hohenadl betrat das Geschäft aus reiner Neugier, weil ihm das Angebot, das man im schmalen Schaufenster sehen konnte, als ein einzigartiges Sammelsurium vorkam. Drinnen sagte er zunächst gar nichts. Er glaubte, in eine andere Welt eingetaucht zu sein. Der alte Verkäufer störte ihn bei der eingehenden Besichtigung der Regale nicht. Vielleicht hatte es vor 150 Jahren ein solches Geschäft gegeben. Vielleicht gab es noch ein vergleichbares in Kathmandu. Hier fanden sich Lebensmittel, Kurzwaren, Blumendünger, Schneckenkörner, Glückwunsch- und Trauerkarten, Nylonstrümpfe, Sockenwolle, Steinkrüge, Benzinkanister, Amsterdamertabak offen, Zigaretten, Zellers Herz- u. Nerventropfen, Saridon und Aspirin, Waschmittel, Kosmetika, Kerzen, Malagasüßwein und vieles mehr. Das breite Sortiment war aber in vielerlei Hinsicht speziell. Denn es gab Pauls filterlose John Players No. 6, Peters Jägermeister, Nellys Strumpfhosen, und „Tante Walpurgas Kaffee Ersatz“.
Dr. Hohenadl besah sich die mit Steinböcken und Enzianen verzierte Dose und fragte nach dem Preis. Die 1.10 Euro kamen selbst Dr. Hohenadl, den man mit Preisen sehr leicht schrecken konnte, günstig vor. Das Pulver sah sehr dunkel aus und roch zwar nicht nach Kaffee, aber auch nicht unangenehm nach angebranntem Zeitungspapier. Bestand es vielleicht aus gerösteten Enzianwurzeln? Oder aus geriebenen Steinbockhörnern? Die waren doch Jahrhunderte hindurch als medizinische Wundermittel hoch geschätzt gewesen. Einen Vergleich mit einem Großen Braunen im Cafe Korb wollte er nicht anstellen. Lieber verglich er das neue Getränk mit dem, was ihm und seinen Leidensgenossen einst im Internat als Kaffee aufgedrängt worden war. Der wurde nach Überzeugung der Insassen des Internats aus ungewaschenen Socken gewonnen.
Es war so, wie es Dr. Hohenadl vorausgesehen hatte. Er gewöhnte sich daran und tat alles, um seine Art Kaffee zu trinken, vor allen Besuchern geheim zu halten. Wenn er Nachschub haben wollte, müsse er die Dose wieder mitbringen, sagte ihm der Verkäufer. So tat es Dr. Hohenadl. Der Verkäufer verschwand in einen finsteren Nebenraum und kam mit der vollen Dose wieder.
Eines Tages überraschte ihn der Verkäufer mit einer niederschmetternden Neuigkeit. Der Laden werde binnen einer Woche aufgelöst. Dr. Hohenadl musste einen besorgniserregenden Eindruck auf den Mann gemacht haben. Trost war dringend nötig.
„Keine Sorge“, sagte der Verkäufer. „Ich gebe Ihnen, was ich noch habe, gratis mit und ich sage Ihnen, wie Sie in Zukunft den Kaffee selbst produzieren können.“
Dr. Hohenadl fand mit einem Schlag das seelische Gleichgewicht wieder, denn er hatte das Wort „gratis“ gehört.
„Sie kaufen sich Gerste, rösten sie in der Pfanne, mahlen die Körner und fertig ist der Kaffee.“
Dr. Hohenadls Umstellung ging nicht ohne Gewissensbisse vor sich. Käme seine Abkehr vom Bohnenkaffee an den Tag, wäre er dann mit der Abschiebung aus Wien bedroht?
Als erstes rechnete Dr. Hohenadl zu Hause. Was kosteten die Körner, was das Rösten? Das Resultat war beglückend. Die Menge einer vollen Dose mit dem Selbstproduzierten würde, wie eine Überschlagsrechnung ergab, um mindestens zwei Cent billiger sein als im Laden in der Hofmühlgasse.
Bis zur ersten Tasse, gebraut mit dem selbstproduzierten Kaffeepulver dauerte es aber noch. Als erstes suchte Dr. Hohenadl nach einer günstigen Bezugsquelle für Gerste. Es konnte nicht bloß gewöhnliche Gerste sein, fand er heraus. Was er brauchte, war Nacktgerste. Sie würde ihm den aufwändigen Entspelzungsvorgang ersparen. Ein Kilosack kostete drei Euro. Würde er einen Zehn-Kilo-Sack beziehen, betrüge die Einsparung zwei Euro. Dr. Hohenadl entschied sich für einen Dreißig-Kilo-Sack, der noch einmal um einen Euro billiger war. Wie er im Kopf überschlug, würde das Versorgungssicherheit für mindestens zwei Jahre bedeuten. Vielleicht sogar länger, wenn er Maß hielt.
Die Lieferung erwies sich als problemlos. Der Mann, der den Sack bis vor die Wohnungstür heraufgebracht hatte, erkundigte sich nach zwei Adressen, nach einer in der Hirschenstraße und einer anderen in der Worellgasse. Das machte Dr. Hohenadl stutzig. Es waren Adressen ganz in der Nähe der seinen. Der Mann lieferte Gerste also auch dorthin? Hieß das vielleicht, dass es etwas ganz Normales war, sich Gerste zustellen zu lassen? Gab es in Wien womöglich tausende Haushalte, die Bezieher von Gerstensäcken waren, weil man überall dort aus Gesundheits- oder Ersparnisgründen den Kaffee selbst röstete? Die Wiener gingen also ins Kaffeehaus, gaben sich in der Öffentlichkeit als Anhänger einer in Jahrhunderten hoch gezüchteten Kultur, und zu Hause tranken sie Ersatzkaffee? Er war also gar nicht der Erfinder dieser Zweigleisigkeit?
Die Notwendigkeit einer Mühle hatte Dr. Hohenadl zunächst nicht bedacht. Die Erkenntnis versetzte seiner Ersatzkaffee-Euphorie einen Dämpfer. Die Anschaffung würde Geld kosten, viel Geld, wie er anhand Dutzender Prospekte herausfand. Es gab Modelle, so voluminös wie eine Küchenkredenz. Selbstverständlich mit Elektroantrieb. Elektroantrieb kam nicht in Frage. Stromkosten mussten vermieden werden. Nicht auch noch Stromkosten! Nein! Handbetrieb natürlich! Zweifachnutzen. Gemahlener Kaffee und ein kleines Muskeltraining jeden Morgen. Die Wahl fiel schließlich auf die „Vagabund, die Mobile – ob als Zweit- oder Einstiegsmühle, ob im Rucksack oder in der Aktentasche, die Hand-Getreidemühle ,Kornkraft Vagabund‘ könnte immer dabei sein, sie ist handlich und klein!“
Dr. Hohenadl hatte zwar nicht vor, die Mühle spazieren zu führen, weder in der Aktentasche noch im Rucksack, aber der Preis – und das war das Wichtigste – schien ihm im Vergleich zum übrigen Angebot beinahe vertretbar. Obwohl, 78 Euro! Wie viel Zeit würde ins Land gehen müssen, bis sich diese Ausgabe amortisieren ließe? Dr. Hohenadl dachte an seine noch verbleibende Lebensspanne. Vielleicht noch dreißig Jahre? Vielleicht aber auch nur fünfundzwanzig? Es konnte aber auch jederzeit von einem Moment auf den anderen zu Ende gehen. Solche Fälle gab es. Wie verantwortungsvoll war im Licht dieser Betrachtung sein Ersatzkaffeeprojekt? Er fühlte eine Welle bohrenden Zweifels in sich hochsteigen.
Werner Thuswaldners Prosaband „Die Welt des Dr. Hohenadl. Ansichten eines gelernten Österreichers“ ist 2019 bei Ecowin erschienen
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Aus dem produktiven Leben eines Knauserers