Dr. Hohenadl lobt die Weltstadt
SATIRE
Dr. Hohenadl machte zunächst Notizen, war sich aber noch nicht über das Thema im Klaren. Nein, über die Wien-Klischees wollte er auf keinen Fall schreiben. Die Philharmoniker, die Hofreitschule, die Schatzkammer und die Sängerknaben überließ er großzügig anderen.Er fragte sich immer noch, ob es klug sei, sich an dem literarischen Wettbewerb zu beteiligen. Aber das Thema „Weltstadt Wien“ reizte ihn. Wegen seiner permanenten Sorge um die Stadt fühlte er sich kompetent. Über Möglichkeiten, den Weltruf Wiens mit Nachdruck zu betonen, hatte er schon viel nachgedacht.
Von Werner Thuswaldner
Den Vorwurf, wonach die Wiener arrogant seien und sich samt der Stadt maßlos überschätzten, kannte er auch, glaubte aber, ihn leicht entkräften zu können. Die Wiener seien in hohem Maß überheblich und betrachteten ihre Stadt als den Mittelpunkt der Welt, hieß es. Außer dem Strand an der oberen Adria nähmen sie im Ausland kaum etwas wahr. Wenn jemand solche Bemerkungen machte, um Wien und die Wiener herabzusetzen, warf er ein: Wien sei eben eine ziemlich große Stadt, die Bewohner müßten nicht ständig auf die anderen schauen, denn von allem, was ein bisschen bemerkenswert sei, gebe es in Wien reichlich.
Bei solchen Überlegungen wollte er sich in seinem Essay gar nicht aufhalten, vielmehr nahm er sich vor, nicht auftrumpfend zu formulieren, sondern bescheiden und liebenswürdig.
Auf den Wettbewerb, ausgeschrieben von der Österreichischen Gesellschaft für Literatur, wurde er während einer Einladung bei der Komtesse Valerie von Rodensky aufmerksam. Die Komtesse war Präsidentin eines literarischen Klubs, der ausschließlich weibliche Mitglieder hatte. Sie nannten sich „Die Perlenfischerinnen“. Ihre Kreativität flackerte aber nur noch hie und da schwach auf. Von Spöttern wurden sie seinerzeit wegen ihrer verwegenen Gedichte gelegentlich „Die Perlhühner“ genannt. Die meisten von ihnen lebten nicht mehr. Die „Hinterbliebenen“ trafen sich dessenungeachtet regelmäßig, in ihren Gesprächen nahm die Literatur jedoch nur mehr einen untergeordneten Rang ein. Sie redeten über Krankkeiten, die Enkelkinder und das Burgtheater, dessen Inszenierungen nach ihrer Einschätzung immer verrückter würden.
Die Komtesse war ausgebildete Sängerin und nützte die Zusammenkünfte regelmäßig dazu, mit zittriger Stimme ein, zwei Schubert-Lieder vorzutragen. Begleitet wurde sie dabei von Richard Hinterhäuser, einem emeritierten Professor von der Musik-Universität. Als Folge einer Erkrankung, Aphasie genannt, hatte er seine Fähigkeit zu sprechen eingebüßt. Hie und da schrieb er kleine Bemerkungen auf und zeigte das Blatt vor. Einige der Damen redeten mit ihm überdeutlich und wie zu einem Kleinkind, weil sie nicht begriffen, dass mit ihm bis auf das Sprechen alles in Ordnung war.
Dr. Hohenadl war außer dem stummen Prof. Hinterhäuser der einzige männliche Teilnehmer an der Zusammenkunft. Er hatte die Einladung einem Irrtum zu verdanken. Die Komtesse hatte ursprünglich den Dressurreiter Richard Hockenstedt gemeint. Der Sekretärin war jedoch beim Schreiben der Adressen ein Fehler unterlaufen. Da sich aber Dr. Hohenadl als angenehmer Gast erwies, durfte er wieder kommen.
Diesmal sang die Komtesse die Lieder „Der Musensohn“ und – weil der Applaus so lange anhielt – auch noch „Die Forelle“. Das passte gut, denn zum Essen hatte es Lachsforelle gegeben. Vor dem Auseinandergehen verkündete die Komtesse die Einladung an die ehemaligen „Perlenfischerinnen“ zur Teilnahme an dem Essay-Wettbewerb „Weltstadt Wien“. „Das kann doch wohl so schwer nicht sein“, sagte die Komtesse. „Vielleicht hat ja die eine oder andere unter euch Lust mitzumachen und sich das Preisgeld abzuholen.“
Dr. Hohenadl, der ja nicht zu den „Perlhühnern“ zählte, schloß sie in eine Verkündigung des Wettbewerbs erst gar nicht ein. Er fragte sich manchmal, ob er in diesem Kreis überhaupt als vollwertiger Mann wahrgenommen wurde. Das Thema empfand er als eine Herausforderung, die ihn direkt betraf. Zugleich wollte er sich nicht über Gebühr wichtig machen und sich nicht anmaßen, sich in die Reihe der Schriftsteller zu drängen. Er dachte über ein Pseudonym nach und es fiel ihm spontan der Name Fanny Eysler ein. Sich als Frau einzumischen, kam ihm apart vor. Was dagegen sprach: Man könnte ihm vorwerfen, sich mit dem Frauennamen einen Bonus erschleichen zu wollen. Angeblich gab es Jurys, die für Frauen – Jahrhunderte lang ungerecht behandelt – die Latte nicht so hoch legten. Ein Gerücht. Noch bevor er sich für ein Thema entschied, nahm er sich vor, in seine Abhandlung ein wenig Ironie einfließen zu lassen.
Als erstes fiel ihm das Stichwort „Weltkulturerbe“ ein. Die Innenstadt Wiens hatte schon längst den „Wekltkulturerbe“-Status. Daher könne Wien mit Fug und Recht den Titel „Weltstadt“ für sich beanspruchen. Das lag wohl auf der Hand. Nein, Selbstverständlichkeiten wollte er nicht auftischen. Aus demselben Grund verbot sich das Protzen mit den Spitzenleistungen der Kultur. Die besten Opern, die besten Theater, die besten Galerien, die besten Kaffeehäuser. Ebenfalls lauter Selbstverständlichkeiten.
Er fragte sich, was ihm darüber hinaus besonders lobenswert an Wien vorkam. Nun, wenn es in den Fernsehnachrichten hieß, die wichtigsten Staatsführer der Welt hätten sich zum wiederholten Mal in einem Wiener Hotel zu Friedensgesprächen getroffen, dann erfüllte ihn das stets mit Genugtuung. Viele Autofahrer fluchten zwar wegen der Absperrungen, wegen der Umwege, die sie nehmen mussten, und schimpften über das große Polizeiaufgebot, „das wir mit unserem Steuergeld bezahlen müssen“, er aber freute sich und führte es auf die besondere Atmosphäre der Stadt zurück, die im Stande war, hohe störrische und streitsüchtige Politiker versöhnlich zu stimmen. Er hielt es zu einem guten Teil für ein Verdienst des charmanten einheimischen Personals, das während der Verhandlungen im Hotel für den Service zuständig war. Finstere arabische Scheichs und afrikanische Warlords sahen zum ersten Mal in ihrem Leben in lächelnde Gesichter.
Eine Überlegung entwickelte sich aus der anderen. Gab es in Wien nicht segensreich wirkende internationale Organisationen noch und noch? Die hatten nicht zufällig Wien als Standort gewählt. Dr. Hoehnadl fing an zu recherchieren. Das erwies sich als schwieriges Unterfangen. Es ließen sich kaum Auskunftspersonen finden, viele gaben sich wortkarg. Dennoch hatte er letztlich eine Fülle von Material beisammen. In seinem Essay wählte er dann nur ein paar Beispiele aus:
Das International Centre for Migration Policy Development.
Das König-Abdullah-Zentrum für interreligiösen und interkulturellen Dialog.
Das International Center for the multiplication oft the miniature pinscher (dvärgpinscher).
Das Intenationale Institut am Möllwardplatz.
Das Friedensinstitut auf der Freyung.
Alle anderen ließ er beiseite, es war schon kühn genug, auf die zwei Friedensinstitute einzugehen. Warum gleich zwei Friedensinstitute? Bekämpften sich die beiden gegenseitig? Nein, um Frieden zu erreichen könne es nicht genug Institute geben, hieß es. Das eine sei seit 1954 damit beschäftigt, die Liste der dreiunddreißig Mitglieder genau zu führen, allen jeweils pünktlich zu ihrem Geburtstag zu gratulieren und die Sterbefälle penibel zu registrieren.
Im Übrigen: Österreich hatte einen nicht zu unterschätzenden Anteil an diesen Organisationen. Das arbeitete Dr. Hohenadl, alias Fanny Eyßler, in seinem Essay deutlich heraus. Das Reinigungspersonal bestünde zur Gänze aus Österreichern und Asylanten mit Bleiberecht, und außerdem fanden abgehalfterte österreichische Politiker ein Unterkommen, einige sogar den einen oder anderen wichtigen Posten.
Dr. Hohenadl bekam auch kritische Auskünfte. Nicht wenige Gesprächspartner waren von der völligen Nutzlosigkeit dieser Organisationen überzeugt. Sie verplemperten eine Menge Geld und produzierten nichts als heiße Luft. Dr. Hohenadl war dieser Widerspruch willkommen, denn er gab ihm im Essay Gelegenheit zu heftigem Widerspruch. Diese Institutionen seien Arbeitgeber für tausende Diplomaten und zahlten Mieten für riesige Bürokomplexe argumentierte er. Dort entstünden in den vielen Abteilungen grundlegende Papiere, die zunächst in Dutzende Sprachen übersetzt und dann von Stockwerk zu Stockwerk verteilt werden mussten, mittels Datenübertragung oder eigens dafür entwickelter Trollys. Neunundneunzig Prozent der Papiere unterlägen allerdings strengster Geheimhaltung. Daher entstünde für den Mann auf der Straße der irrige Eindruck, die Institutionen genügten sich selbst. In Wirklichkeit erreichten sie täglich dingende Anfragen nach Tipps der höchsten Politiker auf der ganzen Welt, die in ihren Ländern nicht mehr weiterwüssten. Nur blutige Laien könnten von Nutzlosigkeit sprechen.
Man nehme etwa das König-Abdullah-Zentrum für interreligiösen und interkulturellen Dialog, Da kämen die Vertreter der verschiedenen Religionen zusammen und redeten friedlich miteinander. Es soll auch schon zu Verbrüderungen gekommen sein. Nun könne man einwenden, dass Konflikte zwischen den Glaubensbekenntnissen auf der Welt noch immer blutig ausgetragen würden. Ja, hie und da komme das noch vor. Aber man müsse sich einmal vorstellen, wie es wäre, gäbe es das Abdullah-Zentrum nicht. Chaos, religiöse Extremisten würden Angst und Schrecken verbreiten. Fürchterlich.
Besonders einfach scheine es, über das International Center for the multiplication oft the miniature pinscher (dvärg pischer) herzufallen. Aber gerade diese Organisation leiste Unschätzbares dafür, um nationales Eigenbrötlertum zu überwinden. Dem österreichischen Pinscher sei es ja dank seines freundlichen Gesichtsausdrucks leicht gefallen, sich zu behaupten, aber der deutsche Glatthaarpinscher erweise sich bis heute als ein Schmerzenskind der Hochzucht, zumal ihm der Dobemann als Konkurrent Probleme mache.
Besonders scharf trat Dr. Hohenadl, alias Fanny Eyßler, der Behauptung entgegen, kaum einer habe je von diesen Organisationen gehört, sie seien nichts als Potemkinsche Dörfer. Er erklärte den Grund: Die Institutionen sähen sich gezwungen, ihre Existenz und ihre Arbeitsergebnisse – daher seien ihre Adressen Scheinadressen - strikt zu verbergen, weil sie andernfalls allzu leicht das Ziel terroristischer Angriffe werden könnten. Ihre Beinahe-Anonymität sei existenziell und bedeute: Schutz vor Terror!
Mit dieser triumphalen Anmerkung schloss der Essay.
Dr. Hohenadl überarbeitete den Text etliche Male. Es kam ihm nicht zuletzt sehr darauf an, ihm eine weibliche Note zu verpassen. Dann brachte das verschlossene Kuvert, auf dem nur der Name „Fanny Eißler“ als Absender stand, persönlich zum Palais Wilczek und warf es in den Briefkasten.
In der Zeit bis zur Juryentscheidung betrieb Dr. Hoehnadl emsige Autosuggestion, indem er sich einbläute, ja nicht mit einem Preis zu rechnen. Er tat es, um die zu erwartende Enttäuschung leichter ertragen zu können.
Die Notiz stand in allen Tageszeitungen: Den ersten Preis des Essaywettbewerbs „Weltstadt Wien“ gewann der ehemalige Vizepräsident des Wiener Eislaufvereins, Silvester Misliwicek, den zweiten Preis Fanny Eissler und den dritten Norbert Musil.
Dr. Hohenadl spürte seinen heftigen Herzschlag. Dreitausend Euro betrug das Preisgeld für Fanny Eissler. Um ans Geld zu kommen, würde er nun sein Pseudonym preisgeben müssen. Er überlegte hin und her. Warum bloß hatte er ein Pseudonym gewählt? Noch dazu ein weibliches? Machte er sich nicht zum Spott, wenn er jetzt mit seiner wahren Identität daherkam? Wie wollte er überhaupt seine Urheberschaft nachweisen?
Mit solchen selbstquälerischen Gedanken vergingen die Tage bis zur Preisverleihung, die mit einer Lesung der Siegertexte verbunden sein sollte. Schweren Herzens schrieb er als Fanny Eissler einen Brief an die Gesellschaft für Literatur, in dem er bedauerte, aus gesundheitlichen Gründen bei der Preisverleihung nicht anwesend sein zu können. Auch diesen Brief warf er ohne Absenderadresse ein.
Was würde passieren, wenn er während der Feier, nach der Verlesung seines Textes, aufstehen würde, um zu bekennen, dass er der Autor sei? Nein so viel Mut brachte er nicht auf. Nicht einmal für dreitausend Euro.
Es bereitete ihm erhebliche Seelenpein zur Feier hinzugehen und mitanzusehen, wie der ehemalige Vizepräsident des Eislaufvereins geehrt wurde, wie man die zweite Preisträgerin, Fanny Eissler, weil sie nicht da war, zur Not gerade erwähnte und den dritten, Norbert Musil, einen fünfzigjährigen Zooangestellten, als Zukunftshoffnung feierte.
Dr. Hohenadl sah, wie ihm eine Dame aus der Reihe vor ihm zuwinkte. Er grüßte zurück. Wer war das? Ja, richtig, sie war eine von den „Perlhühnern“ aus dem Salon der Komtesse Valerie Rodensky. Und jetzt sah er noch eine zweite. Sie redete heftig auf den Mann ein, der zwischen ihnen saß. Dr. Hohenadl erkannte den stummen Professor Richard Hinterhäuser.
Die waren nicht bloß als Besucher da. Nein, die hatten mitgemacht und waren leer ausgegangen! Und nun dachten sie gewiss von Dr. Hohenadl, er habe mitgemacht und sei ebenfalls leer ausgegangen. Sollte er sich wenigstens ihnen gegenüber als Fanny Eissler zu erkennen geben?
Werner Thuswaldners Prosaband „Die Welt des Dr. Hohenadl. Ansichten eines gelernten Österreichers“ ist 2019 bei Ecowin erschienen
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