Backbone auf dem Punkt
WINTERFEST-AUFTAKT / GRAVITY & OTHER MYTHS
15/12/21 Der Winterfest-Zirkus eröffnete mit erzwungener Corona-Verspätung. Den Auftakt macht die australische Truppe Gravity & Other Myths. Ihr Programm Backbone füllt die Szene mit der Virtuosität des Schmerzes.
Von Erhard Petzel
Als Einstimmung ein Clownpaar im Publikum, darunter Body-Percussion mit Frau als klingende Geschlagene. Dann große Begrüßung und Bedankung durch Julia Eder, gefolgt von Wortspenden von Schellhorn, Preuner und Auinger. Beim verbalen Abschluss durch David Dimitri (künstlerischer Leiter des Winterfests seit 2019) kommt schon etwas Ungeduld im Publikum auf. Aber immerhin gilt es die Einbußen durch Corona abzuhandeln, das eigene Zwanzig-Jahre-Jubiläum und damit sich selbst als Winterfest zu würdigen. Ab 21. Dezember soll es ja doch wieder im Volksgarten stattfinden.
Dass dann auch noch aufgebaut wird, ist fast gemein. Des Publikums Wehwehchen werden jedoch bald als Lappalien entlarvt. Der Schmerz ist hier ja Programmfaktor. Nach Wanderungen auf Köpfen, gesteigert zu drei Dreiertürmen, getoppt durch einen Viererturm, ist Gravity warmgelaufen und bereit für Sadomaso. Der Inhalt zahlreich herumstehender Kübel wird über den Boden geschüttet (vielleicht Tongranulat, doch wohl kein von draußen zusammengekehrter Split!), später auch über Artistinnen. Später wird ein Artist wie eine Barke mit schöner Last darüber geschleift – natürlich mit bloßem Rücken, der danach ein Weilchen paniert bleibt. Ein übrigens außerordentlich lyrischer Moment dank der Kompositionen von Elliot Zoerner und Sonja Schebek.
Das ganze Programm lang Hebefiguren, Türme, Rollen, Sprünge, Landungen, Schleifen und was man seinem Körper sonst noch virtuos antun kann, barfuß auf hartem Gekrümel. Was wunder, dass auch etliche Choreografien Gewaltorgien aus dem Outback zu simulieren scheinen, ein großteils durch Provinzlerklamotten verstärkter Eindruck. Dazu kommen Auszählspielchen. Einmal werden die Musiker (Nick Martyn Percussion, Shenton Gregory auf Keyboard und Geige) als Seilhalter missbraucht. Wer beim Durchzählen überlappt, muss sich von den anderen das Seil auf den (natürlich nackten) Bauch schnalzen lassen. Zum Schlussapplaus gibt es ein Steinestemmen mit Violinbegleitung. Vermutlich als Botschaft inszeniert, da ein Mädchen mit Überlänge siegt.
Immer wieder Wackersteine als Erschwernis. Vielleicht auch als Hinweis auf den eigenen Namen: Mythen der Gewalt und der Mühsal. Hängt einem antiken König ein Schwert am Seidenfaden über dem Haupt, ist es hier ein Netz am Seil, gefüllt mit schweren Brocken, gehalten und langsam abgesenkt von den Männern, während drei Frauen grazil den Boden darunter bespielen. Vorher ist der Platz vom Schotter spektakulär freigewischt worden, dass es nur so staubt. Frei nach dem Motto: was schert mich die Silikose in zehn Jahren, wenn ich im Moment einen herrlichen Nebel für meinen Laser wabern lassen kann (fulminante Lichteffekte und Bühne: Geoff Cobham).
Mühelos wirft sich die seit 2009 vereinte Truppe in die selbst auferlegten Drangsale, baut im Nu eine Brücke auf der dritten Etage und Pyramiden mit Kopf im Kübel, verschaukelt politisch völlig inkorrekt ihre Mädchen, schleudert sie simultan und gegengleich durch die Gegend und wieselt zwischen ihnen durch. Körper werden von Schlitten zu Sprungtüchern und schlingern als Springschnüre, als die sie auch durchsprungen werden. Höhepunkt an faszinierender Grauslichkeit ist ein hochgespießter Frauenkörper, der schließlich auf einem einzigen Punkt im Kreuz landend die Balance hält. Backbone, der Titel des Programms auf dem Punkt.
Die Qualitäten eines Zeltes können in der Szene Salzburg natürlich nicht gänzlich vergessden gemacht werden. Aber natürlich war das Premierenpublikum hingerissen von der gewaltigen Virtuosität der Australier. Donnernder Applaus und standing Ovations im vollen Saal.