Körpermusik
ARGEkultur / EDITTA BRAUN COMPANY & AYSE DENIZ / CLOSE UP
16/10/15 Eine launische Klavierspielerin, gesichtslose Schattenwesen und Töne, die diese zum Leben erwecken: Es ist die eindrucksvolle Interaktion zwischen Klang und Bewegung, die das Publikum ab dem ersten Tastenanschlag in ihren Bann ziehen: „Close up“
Von Claudia Maria Kraml
Ohne ein einziges Wort kommen die türkische Pianistin AyseDeniz und die Mitglieder der editta braun company bei ihrer surrealen Darbietung „Close up“ aus - und erzählen in Geste, Bewegung und Tanz eine fesselndere Geschichte, als es mit sprachlichen Mitteln möglich wäre.
Inmitten von grauen, steinähnlichen Gegenständen sitzt eine junge Frau und liest, womöglich Noten, doch so genau ist das nicht zu erkennen. Das auf sie gerichtete Schweinwerferlicht verliert allmählich an Kraft, bis sie sich ans Klavier setzt, zu spielen beginnt – und der mutmaßliche Steinhaufen neben ihr zum Leben erwacht. Mit bedächtiger Langsamkeit, rhythmischen Zuckbewegungen und immer im Einklang mit dem Klavierspiel wagt sich ein anfangs unkenntliches Etwas an die Oberfläche. Es ist ein Mensch, doch es bleibt unklar, ob Frau oder Mann, jung oder betagt. Und die schier endlose Dunkelheit birgt noch weitere mysteriöse Gestalten, die bald teils allein, teils ineinander verschlungen über den Boden gleiten, einer im Takt pulsierenden Marionette gleich.
Vollzieht sich hier im Zeitraffer die Evolution der Menschheit? Wo liegt die Grenze zwischen menschlichen und animalischen Wesenszügen? Wann schlagen die so beschwingt anmutenden Pianoklänge um in dumpfes Grollen? Die Faszination des von Editta Braun choreografierten Stücks besteht unter anderem darin, Leerstellen zu erzeugen und Fragen aufzuwerfen, deren Beantwortung der Interpretation des Publikums überlassen bleibt.
Während die türkische Klaviervirtuosin AyseDeniz Gokcin ihre Hände in unglaublicher Geschwindigkeit über die Tasten fliegen lässt, präsentieren sich fünf Tänzerinnen der in Salzburg beheimateten editta braun company mit akrobatischen Einlagen, die von erstaunlicher Körperbeherrschung zeugen.
Dabei treten sie niemals als Individuen in Erscheinung, vielmehr bleibt jede für sich anonyme Vertreterin eines großen Ganzen, das in seiner Komplexität auch keiner expliziten Klärung bedarf. Es handelt sich jedoch nicht etwa nur um ein harmonisches Zusammenspiel von Klang und physischer Reaktion darauf, denn gelegentlich widersetzen sich die Figuren mit der raupenhaften Fortbewegungsart auch den melodischen Befehlen der Pianistin. Und von einer Sekunde auf die andere wird aus purer Nachahmung Aufbegehren, der Versuch eines Ausbruches. Polemik.
Die Übergänge zwischen diesen beiden Polen sind fließend, und nicht selten ist es der letzte Nachhall einer Passage von unbestechlicher Lebendigkeit, der sich in Begleitung neuer, viel düsterer Klangfarben in ein einziges beklemmendes Erlebnis verwandelt. Verstörende Szenen werden sichtbar, die von sich windenden, animalische Laute stöhnenden Leibern bis hin zu scheinbar körperlosen, die Musikerin im Schlaf verfolgenden Gliedmaßen reichen.
Doch auch Traum und Wirklichkeit sind keine brauchbaren Anhaltspunkte mehr, wenn AyseDeniz die mysteriösen Wesen, die man trotz beeindruckenden Körpereinsatzes im wahrsten Sinne des Wortes nie „zu Gesicht bekommt“, mit ihrer Interpretation von Thierry Zaboitzeffs Kompositionen zum Leben erweckt.
Woher sie tatsächlich stammen, wie sie über den hier nur allzu schmalen Grat zwischen Imagination und Gegenständlichkeit gelangt sind und wohin sie ihr Weg noch führen wird, bleibt unbeantwortet oder auch nicht und liegt letztendlich im Auge des Betrachters. In einem Raum, der großteils aus Finsternis besteht, sind dennoch teilweise nur subtile Veränderungen nötig, um noch dichtere Atmosphären zu schaffen und die Szenerie, etwa mittels gefängnisgitterförmiger Lichtbündelung, durch eine neue Dimension der Bedrängnis zu erweitern. Inmitten all der mystischen Vagheit bleibt jedoch eines sicher: Editta Brauns jüngste Inszenierung hinterlässt neben viel Raum für die Fantasie des Publikums auch bleibenden Eindruck.