Chamäleon auf Pirsch
ARGE KULTUR / TANZHOUSE FESTIVAL
09/10/20 Zuerst ein Kletterparcours auf ebener Erde: Martin Kilvady von der Shmeeshmoo Company im Solo zum Thema Mensch. Dann gingen Anna und Eva Müller und ihre „Meute“ mit Wild Hunt auf die wilde Jagd im Themen-Revier Tierisches – Technisches – Menschliches. Eine ganze Augenweide über dem, der aus dem Rahmen fällt.
Von Erhard Petzel
Vielleicht steht ja doch all unsere Technik nicht gegen unsere Natur, sondern die Natur trotz aller Technik im Zentrum unseres Wesens? Auf der Bühne findet so ziemlich das statt, was man sich unter den beiden Titeln dieses Abends im Rahmen des Tanz_House Festivals in der ARGEkultur auch vorstellt. Bouldering the Theatre Couloirs von Martin Kivlady ist eine Solo-Performance. Danach führen Anna und Eva Müller ihr elfköpfigen Ensemble auf die wilde Jagd – wild hunt eben.Kivlady offenbart sich fasziniert vom Bewegungsrepertoire des Kletterns und entwickelt daraus eine humorvolle, komische und bis zur gemäßigten Clowneske geführte Choreographie, die ohne den Titel durchaus auch mit dem Jagdthema korrelierte.
Denn zum Vogelzwitschern, das ispäter mit Zwitscher-Eiern zum Pärchenflirt geführt werden wird, erinnern die ruckartigen Bewegungen Kivladys an ein Chamäleon auf Pirsch. Die Seitauslenkung der Extremitäten und die bei ihrer Groteske immer noch weichen Verwindungen machen klar, dass es sich um einen Kletterparcours samt Ausrüstung auf ebener Erde handelt. Kommt der Performer lange Zeit ohne Klanghintergrund aus, setzt ein Klavier mit zunächst spartanischen Tonspenden ein. „It might be nice to disapear“...
Für Wild hunt von Anna und Eva Müller hat Austatterin Katharina Ganner sechst bewegliche und transparente Quader als interaktive Bühnenelemente zu sowohl aktivierenden wie passiv verschobenen Raumdominanten vorgesehen. Diese dienen als Projektionsflächen für Lichteffekte und mehr oder weniger verschwommene Filmsequenzen in Korrespondenz zu Projektionen über die ganze Bühne. Für Licht und Video zeichnet Beto de Christo. Zwei blutrote Lichtstreifen wandern von rechts nach links über die gesamte Szenerie, bis Gruppen von Fellwesen in dieser lapidar gegliederten Landschaft zu verunsichert zitternder Aktivität ansetzen. Der Fellmantel und die Kontroversen um sein Ablegen werden zum narrativen Leitmotiv - wie auch netzartige Laserstrukturen, Filmeinstellungen mit Menschlichem (in Bewegung auch von rechts nach links), Schwarz-Weiß-Einstellungen mit Farbkontrasten oder Musik- und Klangelementen von Lissie Rettenschwander und Fabian Lanzmaier. Über allem das große Auge, das sich vervielfältigt bis zur Allgegenwart.
Tierisches – Technisches – Menschliches: In diesem Circus dreht sich in Wild Hunt der Reigen von Angst und Anmaßung, in dem volatil ist, wer Jäger ist und wer Gehetzter. Denn Aggression und Selbstinszenierung zeitigen nur bedingt Früchte und werden durch übergeordnete Strukturen konterkariert. Das Auge wird zwar zum übermächtigen Überwältiger, doch kann man sich durch Solidarität seinem Fadenkreuz entziehen. Kann man? Eine ganze Augenweide über den, der aus dem Rahmen fällt. Doch letztlich kommt auch die alles überwachende Technik an ihr Ende. Im Schlussbild verglimmt ein Lichtpunkt.
Wie immer man diese Performance deuten will, besticht sie durch Taktung, Rhythmus, Synästhesie und den konzisen Aufbau der Spannungsbögen. Sympathisch an der 11-köpfigen Truppe ist auch ihre Durchmischung in Geschlecht, Alter und körperlichen Eigenschaften. Bei aller Einheit in der Performance kommen individuelle Züge zum Tragen. Und bei aller Verfremdung sieht sich das Publikum im Spiegel menschlichen Wesens und seiner Verworfenheit in der Welt.