Weibervollversammlung
REST DER WELT / GRAZ / FREIHEIT IN KRÄHWINKEL
04/11/10 Wenn der Vorhang nach der Pause aufgeht, finden wir uns in einer "Weibervollversammlung" (Programmheft-Zitat: Regisseurin Christina Rast). Auch das noch im Nestroy'schen "Krähwinkel"!
Von Reinhard Kriechbaum
Eine der Damen ist offenbar ein Relikt der 68er-Freizügigkeit und sitzt im Fauteuil-Halbrund nackt da. In Wirklichkeit natürlich im fleischfarbenen Ganzkörper-Kostüm, weil Graz ist im Ernstfall auch nur Krähwinkel. Andere Typen dieser Weibervollversammlung sind deutlich betulicher oder gar spießig. Zwei Gören melden sich mit plakativer Aufmüpfigkeit pausbäckig zu Wort. Man diskutiert sich durch revolutionäre Stehsätze aus dem letzten halben Jahrhundert.
Keine Frage: Die Schweizer Regisseurin meint es bitterernst mit dem Diskurs um Freiheit. Noch viel ernster als Nestroy, der die Sache immerhin mit possenhaftem Witz angegangen ist. Das Schwestern-Duo Christina Rast (Regie) und Franziska Rast (Bühne, Kostüme) führt uns in einer grellen Revue einige historische Stationen der Revolution vor, von der Metternich-Ära bis Che Guevara. Gleich zu Beginn lässt die Musik (Klarinette, Posaune, Cello) ein Beethoven-Potpourri hören, und bis alles Zitatwerk von der Eroika bis zur Neunten untergebracht ist, steht die Partie erst mal. "Freiheit in Krähwinkel" will im Grazer Schauspielhaus nicht so recht anfangen, man schielt schon vor der ersten Szene nach der Uhr.
Zwischen lähmend-doofem Slapstick und plakativer Marktschreierei, zwischen verkrampfter Aktualisierung und fanatische Verulkung à la Monty Python taumelt diese Aufführung dahin, für die man sich auch Gäste vom "Theater im Bahnhof" geholt hat: allen voran Michael Ostrowski, der den aufmüpfigen Ultra (die eigentliche Hauptrolle) spielt. Wie er sich als Nestroy-Figur gibt? In etwa so wie als Kurt im Film "Die unabsichtliche Entführung der Elfriede Ott" - nur mit dem Unterschied, dass die tollpatschige Vorlautheit in diesem Film gut passt. Auf der Bühne wirkt Ostrowski eher als herzblutiger Amateur-Mime.
Warum überhaupt Nestroys "Freiheit in Krähwinkel" aufführen? Das Stück ist beheimatet im Revolutionsjahr 1848 und beschreibt auch gleich das Zurückkippen in die Reaktion. Nicht die Revolution frisst ihre Kinder, sondern das behagliche Leben und die berufliche Karriere macht aus manchem Revoluzzer einen angepassten Zeitgenossen. Das ließe sich, nah an Nestroy, jederzeit gut ins Heute transferieren, wenn man an den Gedanken dran bleibt und die Sache nicht gleich als historischen Bilderbogen bis hin zum Video-Cartoon überlädt. Hier plätschern die Ideen unkanalisiert und der Klamauk erreicht einen Pegelstand, dass den Darstellern das Wasser bis zum Hals steht.
Und, so nebenbei: Ganz unter den Tisch fallen sollte man den Sprach-Artisten Nestroy auch nicht lassen, auch wenn "Freiheit in Krähwinkel" gewiss nicht sein stärkstes Stück ist.