Macht des Goldes
REST DER WELT / WIEN / CARDILLAC
18/10/10 Mit der Neuinszenierung von Hindemiths Künstleroper „Cardillac“ haben Generalmusikdirektor Franz Welser-Möst und Regisseur Sven-Eric Bechtolf einen zweiten Pflock für die Intendanz von Dominique Meyer beim Wiener Publikum eingeschlagen. Zu Recht gab es nach 90 konzentrierten Minuten großen Jubel für alle Beteiligten.
Von Oliver Schneider
Immer wieder haben die beiden in der Vergangenheit in Wien und vor allem in Zürich in ihren gemeinsamen Produktionen neue Sichtweisen ermöglicht, ohne gleich zu verstören oder zu vergrämen. Auch mit Hindemiths Brückenwerk haben sie mit dem kongenialen Ausstatterehepaar Rolf und Marianne Glittenberg diesen Weg beschritten.
Das Libretto von Ferdinand Lion befreit E. T. A. Hoffmanns romantische Kriminalgeschichte „Das Fräulein von Scuderi“ von allem Beiwerk: Übrig bleibt die Entlarvung des im 17. Jahrhunderts in Paris hoch geehrten Goldschmieds Cardillac als Mörder, der alle Käufer seiner Schmuckstücke aus Besessenheit nach dem Gold und Wahn tötet. In dem 1926 in Dresden uraufgeführten Werk überwindet Hindemith mit seiner Rückkehr zur Nummernoper und der Hinwendung zu neobarocken Formen in Kombination mit dem expressionistischen Vokabular die Grenzen des Wagnerschen Musikdramas.
An diesem Punkt setzen Bechtolf und sein Ausstattungsteam an. Ihr Goldschmied tötet nicht im Paris Ludwig XIV, sondern in einer mit verzerrten Hausfassaden angedeuteten Stadt in der Entstehungszeit des Werks. Expressionistisch überzeichnet sind nicht nur die schwarzen Hausfassaden, sondern auch die Menschen mit ihren kreideweißen Gesichtern. Die zwanziger Jahre waren auch die Zeit des Stummfilms, was sich in der vornehmlichen Beschränkung auf schwarze Bühnenbilder und Kostüme und zum Beispiel in den mechanischen Bewegungen von Cardillacs Tochter niederschlägt.
Aufgrund der verknappten Form eignet dem Werk ein oratorienhafter Charakter. Die Handlung spult sich bis zur Tötung Cardillacs durch das Volk ab, ohne dass zwischen den Personen tiefergehende Beziehungen entstehen. Wirklich mit Leben hat Hindemith nur den Goldschmied erfüllt, der, von seinem Dämon besessen auch den Geliebten seiner Tochter, einen Offizier, töten will, nachdem er bei ihm für sie ein Schmuckstück erworben hat.
Farbe kommt nur zweimal an diesem Abend ins Spiel. Wenn eine Dame im stilisierten barocken Gewand ihren Galan auffordert, ihr das schönste Schmuckstück von Cardillac zu bringen, und ihn in ihrem Boudoir mit einem blutroten Vorhang über die ganze Bühnenbreite empfängt. Passend zum lyrischen Ton der sich entspinnenden Pantomime greift Bechtolf für diese Szene auf die schon von Giorgio Strehler eingesetzte Scherenschnitt-Ästhetik zurück. Der anmutigen, von Ildikó Raimondi und Matthias Klink ausgezeichnet gespielten und gesungenen Szene setzt der Todesstich Cardillacs in des Kavaliers Rücken ein jähes Ende. Den zweiten Farbtupfer des Abends setzt das Regieteam mit Cardillacs goldenem Mantel und seinem Goldschrank, aus dem der Goldhändler ebenso wie Cardillacs böser Geist entsteigt.
Anders als in der geglätteten zweiten Fassung des Werks von 1952 verurteilen Hindemith und Lion Cardillac in der Erstfassung für seine grausamen Taten nicht, sondern billigen ihm als Künstler das Recht zu, sich über Gesetze hinwegzusetzen. Das Regieteam setzt hier ein Fragezeichen, indem der zum Denkmal erstarrte Cardillac am Schluss mit einer goldenen Gesichtsmaske mehr einem Mahnmal als einem Symbol für die Freiheit des Künstlers gleicht.
Alle Solisten gaben am Sonntagabend (17.10.) ihr Rollendebüt. Schlicht Großartiges leistet Herbert Lippert als Offizier, dessen Stimme über die Jahre dramatisch gereift ist, ohne ihre lyrische Geschmeidigkeit zu verlieren. Als Cardillac debütiert Juha Uusitalo und gefällt mit seinem robusten Stimmsitz, wirkt aber zu brav, um die Bühne mit gespaltenem Charakter beherrschen zu können. Seine dämonische Besessenheit nimmt man ihm nicht ab, da wirkt Tomasz Konieczny als markanter Goldhändler schon geheimnisvoller. Juliane Banse ist nach acht Jahren Absenz als Cardillacs Tochter an die Staatsoper zurückgekehrt und überzeugt mit tragfähigem, gut abgerundetem Sopran in den breit ausschwingenden Legatobögen. Thomas Lang schließlich hat den Staatsopernchor optimal für die umrahmenden Chorszenen vorbereitet.
Ohne Abstriche reüssieren alle Beteilgten in puncto Diktion. Dass dies möglich ist, ist in erster Linie Franz Welser-Möst und dem Staatsopernorchester zu verdanken. Laut ist bei Welser-Möst immer ein relativer Begriff, denn er verliert nie die Balance zwischen Bühne und Graben, auch nicht, wenn Hindemith ein Fortissimo mit Blech und Schlagwerk fordert.
„Cardillac“ ist ein vielschichtiges Werk, und diese Vielschichtigkeit bringen Welser-Möst und die Musiker zum Blühen. Genauso grazil wie das Orchester das Getändel des Kavaliers und der Dame im ersten Akt begleiten kann (sehr schön das Flötenduo bei der Pantomime), kann es dramatisch zupacken, wenn Cardillac mit dem Offizier disputiert oder reuelos am Schluss in Zwiesprache mit dem Volk tritt.
Ein in Erinnerung bleibender Abend, der dank des guten Programmbuchs im neuen leserfreundlicheren und moderneren Layout sowie größeren Format noch nachwirken kann.