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Ghana, Österreich – und eine große Liebe

HINTERGRUND / DIAGONALE / IVETTE LÖCKER

26/03/25 Morgen Donnerstag (27.3.) beginnt in Graz das Festival des österreichischen Films Diagonale. Eine Werkschau gilt der im Lungau aufgewachsenen, in Berlin lebenden Filmemacherin Ivette Löcker. Ihr im Berlinale Forum uraufgeführter Film Unsere Zeit wird kommen hat dort Österreich-Premiere.

Von Reinhard Kriechbaum

Hier sei er attackiert worden wie ein Krimineller, sagt der sichtlich aufgeregte Siaka vor einem Lokal, geschlagen, verprügelt und dann noch gedemütigt von der Polizei. Der Dokumentarfilm Unsere Zeit wird kommen beginnt mit einer Erinnerung an ein traumatisches Erlebnis. Nur eine von vielen Verletzungen, die Siaka aufgrund seiner Hautfarbe auf seiner Flucht nach Österreich widerfahren sind. Er will aufgrund diskriminierender Erfahrungen über seinen Schmerz und systemischen Rassismus sprechen. Victoria hingegen verbindet mit der gemeinsamen „Filmzeit“ stärker den Wunsch nach einem von den täglichen Belastungen unbeschadeten Bereich, in dem ihre Liebe und Verbundenheit Zeugnis findet. So sehr die beiden einander lieben, bringen die unterschiedlichen Herkünfte – Gambia, Österreich – zwangsläufig verschiedene Perspektiven auf das (filmische) Wir hervor.

Das ist eine Situation ganz nach dem Geschmack der Filmemacherin Ivette Löcker. Sie ist eine begnadete Menschenbeobachterin, mit besonderer Vorliebe für Paarbeziehungen. Durch behutsames Nachfragen (nur ganz selten tönt in ihren Filmen ihre Stimme aus dem Off) deckt sie nicht nur unterschiedliche Sichtweisen auf, sondern sie machtg spürbar, wie sich darin gesellschaftliche Normen, wirtschaftliche Notwendigkeiten, Vorurteile der Mitmenschen spiegeln. Wie also die politische und soziale Großwetterlage auf die Befindlichkeit der jeweiligen Protagonisten durchschlägt und wie sich andrerseits im Fokus auf die private Welt eben diese Großwetterlage abzeichnet.

Das war schon im Film Marina und Sascha, Kohleschiffer (2008) so. Am Baikalsee in Sibirien wagte sie, die Wien Slawistik (Russisch), Osteuropäische Geschichte und Soziologie studiert hatte, ihre ersten filmischen Schritte. Sie porträtierte ein Paar, das auf einem Lastkahn arbeitet. „Marina und Sascha waren mir, trotz aller Ferne, durch ihre einfache Lebensweise vertraut“, sagt Ivette Löcker. „Sie hatten ihren Freiraum gefunden, so zu leben, wie sie wollten. Darin ähneln sie den Menschen, die ich in Berliner Winternächten begleitet habe.“ Ebenso wie zehn Jahre später Anja und Serjoscha (2018), die unangepassten Teenager aus dem ukrainischen Mariupol, in ihrer Angst vor einer ungewissen Zukunft. Da dräute dort bereits die Gefahr einer russischen Unterwanderung – wenn auch niemand – jedenfalls nicht im Westen – einen direkten Angriffskrieg für möglich hielt.

Ivette Löcker ist in St. Michael im Lungau aufgewachsen und hat dort maturiert. Nach dem Studium arbeitete sie als Rechercheurin, Produktionsleiterin und Regieassistentin bei verschiedenen Dokumentarfilmen, beispielsweise für die Tschernobyl-Dokumentation Pripyat von Nikolaus Geyrhalter. Seit 2006 realisiert sie Dokumentarfilme unter eigener Regie. Im Jahr 2011 erhielt sie für Nachtschichten den Großen Diagonale-Preis: Wenn es Nacht wird in Berlin, beginnt für manche der Tag. In ihrem ersten Langdokumentarfilm besuchte Ivette Löcker abgelegene Winkel der Großstadt. Zwei junge Graffitikünstler pirschen sich an Eisenbahnwagons heran und erklimmen heimlich Hausdächer. Eine Wachbeamtin, die sich selbst nur in der Nacht sicher fühlt, kontrolliert ein Industriegelände. Zwei Frauen fahren mit ihrem Kleinbus quer durch die Stadt und kümmern sich um frierende Obdachlose, und eine als DJ arbeitende Japanerin philosophiert über den Gegensatz der Kulturen und die fehlende Ruhe in ihrer asiatischen Heimat.

Auch 2017 ist Ivette Löcker mit einer Auszeichnung von der Diagonale heimgekehrt. Da wurde ihr der Preis in der Dokumentarfilmsparte für Was uns bindet zugesprochen. Für diesen Film ist Ivette Löcker, die unterdessen in Berlin lebt und arbeitet, zurückgekommen in ihre alte Heimat und hat gemeinsam mit Familienangehörigen dem Verständnis von Heimat nachgespürt.

Weitere Filme, die nun bei der Personale in Graz gezeigt werden: In Wenn es blendet, öffne die Augen porträtierte Ivette Löcker Schanna und Ljoscha, ein drogensüchtiges junges Paar in St. Petersburg – ein Stück Lebensrealität im postkommunistischen Russland. In der Kurzdoku Vom Über(Leben) der Sonja Wolf wird eine grausame Familiengeschichte von Flucht (aus Nazideutschland), Ermordung (durch den Stalin-Terror) und Traumatisierung aufgedröselt.

An Menschen an den Rändern der Gesellschaft kann Ivette Löcker besonders gut ihre Sicht auf die Zusammenhänge von individueller Lebensgeschichte und Gesellschaft entwickeln. „Löckers Arbeiten folgen keinen starren (ästhetischen) Konzepten, sie sind stets Mischformen aus Alltagsbeobachtung und verdichtetem Kommunikationsraum – wobei sich Alltag weniger als das 'normale Leben' begreift denn vielmehr als ein zur Normalität verfestigter Ausnahmezustand“, heißt es im Diagonale-Programmbuch.

Die Diagonale findet von 27. März bis 1. April 2025 in Graz statt – Zum Filmschwerpunkt Ivette Löckerwww.diagonale.at
Bild: Diagonale / Jürgen Keiper (1); Courtesy Sixpackfilm (2); Mischief Film (1)
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