Mann, Wolf, Ungeheuer
GRAZ / PEEPSHOW
13/01/10 Als fortgeschrittenes Semester würde man misstrauisch, wenn einen die Oma aufforderte, die Kleider abzulegen und zu ihr ins Bett zu kriechen. Aber Rotkäppchen ist brav und folgsam.Von Reinhard Kriechbaum
Großmutter, warum hast Du so viele Haare (und andere Dinge, die unerwartet üppig ausfallen)? - Es beginnt also mit Rotkäppchen und kreist letztlich um die kleinen und schwerwiegenden Verwundungen in Beziehungen. Um die Holzspäne, die man sich beim Umgang mit aus rohen Brettern schnell gezimmerten Beziehungskisten unweigerlich einzieht.
Martina Stilp und Anna-Sophie Mahler messen sich im Grazer Schauspielhaus an Marie Brassards One-Women-Stück. "Österreichische Erstaufführung" heißt es, aber damit flunkert man ein wenig: Die Franco-kanadische Schauspielerin Marie Brassard hat "Peepshow" 2004 für sich selbst geschrieben. Sie zieht damit seither mit viel Erfolg durch die Lande, und ist - 2005 schon - auch bei den Wiener Festwochen vorbei gekommen. Aber macht nichts. Als "Nach-Spiel" dürfte die Aufführung tatsächlich eine Erstaufführung im Lande sein.
Die Marthaler- und Schlingensief-geeichte deutsche Regisseurin Anna-Sophie Mahler hat sich für ein Zirkus-Rund entschieden. Auf enger Spielfläche schlüpft die famose Martina Stilp in die verschiedenen Rollen. Im Wesentlichen geschieht die Personen-Identifizierung durch Stimme und subtile Bewegungen. Man kann die Leute im Ein-Frau-Stück gut auseinander halten, muss aber nicht: Im Grunde sind es ja Spielarten der gleichen Einstellung, der gleichen Beziehungs-Mechanismen. Ob Rotkäppchen herself oder die noch nicht ganz volljährige Göre in der Bar, die sich einen Spaß draus macht, dass ein Mann sie beobachtet und er ihr folgt – die Mischung aus Beinahe-Unschuld und etwas zu mutiger Neugier ist symptomatisch. Ein wenig leichtsinnig tändeln die jungen Damen mit dem anderen Geschlecht.
Meistens geht alles gut. Etwa mit jener Jugendlichen, die einen entlaufenen Hund zum rechtmäßigen Besitzer zurückbringt und dort mit Lederkluft und Fesselung konfrontiert wird. Aber ans Eingemachte geht es, wenn sich die einsame Lehrerin als eine herausstellt, die sich mit der Rasierklinge selbst an den Genitalien verletzt und so seelischen Schmerz in offenbar leichter zu ertragenden körperlichen Schmerz umwandelt.
Warum "Peepshow"? Man sehe immer nur eine Episode, einen Ausschnitt vom Ganzen, erklärt die Autorin. Dazu kommt die ständige Aufforderung, sich Situationen - und die Folgen - auszumalen. Das Unaufdringliche, Unprätentiöse ist die Stärke dieser Aufführung. Anna-Sophie Mahler und Martina Stilp haben mit Akribie daran gearbeitet, jedes Zuviel zu vermeiden.
Auch der Klanghintergrund ist reizvoll: Gerne hört man auf das, was Gerriet K. Sharma vor aller Augen und Ohren auf Laptop und allerlei Gerät mit Reglern und Knöpfen zaubert, im Dolby-Surround-Effekt um die drei Publikumsreihen im Zirkusrund. Da bekommt schon das Kratzen einer musik-losen Schallplatte Symbolwert.
Und doch schleicht sich der Verdacht ein, einem sympathisch leisen, aber durchaus kunstgewerblich-zeitgeistigen Spektakel beizuwohnen. Sind die Geschichten wirklich tragfähig? Oder nimmt sich die Generation 35+ in ihren Seelenerkundungen und dem Mitteilungsdrang zum Thema ein wenig zu wichtig? Mag sein. Was aber stark für den Rotkäppchen-Mythos à la Marie Brassard spricht: Wir alle liefern uns gerne dem Vagen, Unplanbaren, dem Unerwarteten aus. "Web 2.0" war 2004 noch nicht "in". Aber vielleicht würde Marie Brassard heute ihre "Peepshow" einer Twitter- oder Facebook-Umgebung einschreiben. Dort lauern auch Männer, manchmal Wölfe und gelegentlich sogar Ungeheuer.