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Alle schauen irgendwie nach unten

LINZ / LANDESTHEATER / ALICE VERSCHWINDET

20/12/22 Seit 2004 schreibt das Landestheater Linz im Zweijahres-Rhythmus ein Thomas-Bernhard-Stipendium aus. Es ging zuletzt an die gebürtige Schweizerin Selma Matter und die Berlinerin Marie Lucienne Verse für das gemeinsame Theaterstück Alice verschwindet.

Von Reinhard Kriechbaum

Warum hat Alice einst gar so genau die Gewänder ihrer Töchter inspiziert, nach Löchern und fehlerhaften Stellen gesucht? Warum ist sie immer und immer wieder abends mit Kleidungsstücken zur Schneiderin gefahren? Die Frau war – so bildhaft formuliert es jetzt eine der Töchter – auf der Suche „nach einem Riss, durch den sie durchschlüpfen“ konnte. Ihre sexuelle Orientierung hat sie nie frei leben können. Mit der Schneiderin hat Alice eine lange lesbische Beziehung verbunden, und diese Nähe besteht auch jetzt noch, da die Wohnung aufgelöst und Alice im Altersheim ist.

Von dort ist Alice nun also verschwunden. Sie ist einfach getürmt. Die Nachricht kommtper SMS. Damit setzt der Text des Schreib-Kollektivs Matter*Verse ein, die erste Arbeit der beiden für die Bühne. Aus dem Treffen der drei Töchter, bei dem eigentlich nur die nötigen Schritte zu besprechen gewesen wären, um Alice irgendwo aufzustöbern, wird eine Familien-Exploration. In jeder der drei jungen Frauen kommen Erinnerungen hoch, werden verknüpft zu einem Flechtwerk aus gemeinsamen Erfahrungen. Offenbar haben die Schwestern vieles so noch nie untereinander ausgesprochen. Von den ersten Sätzen weg ist klar: So, wie die Mutter gefangen war in gesellschaftlichen Konventionen und inneren Zwängen, haben sich auch in der folgenden Generation Mauern aus Schweigen aufgebaut. Das Offensichtliche auszudrücken, zu bewerten, auch nur nüchtern zu benennen fällt immens schwer. Lauernd umkreisen die Töchter einander, tastend nach den Ansichten der anderen.

Selma Matter und Marie Lucienne Verse verkaufen in diesem Text alte Hüte der Psychologie, doch die sitzen passgenau auch auf jungen Köpfen. Das rechtfertigt das Unternehmen. Der Text ist dramaturgisch stringent gebaut, verlangt nach präziser Sprache und kontrollierter Emotion. Das lösen Gunda Schanderer, Lorena Emmi Mayer und Nataya Sam in der Uraufführung auf der Studiobühne des Linzer Landestheaters bestens ein. Das Kammerspiel braucht auch die unmittelbare Nähe zum Publikum.

Regisseurin Valerie Voigt hat einen Quader bauen lassen mit transparenten Wänden. Dort drinnen ist Alice gefangen – die Tänzerin Andressa Miyazato mit wasserstoffblonder Perücke und maskenhaft geschinktem Gesicht. Am Beginn wird sie von blauen Bändern rundum gehalten, an jeder freien Bewegung im ohnedies kleinen Raum gehindert. Diese Fesseln müssen erst abgerissen werden, aber auch dann wird Alice in ihrem Gefängnis verharren, wird sie sich nur körpersprachlich äußern. Sie bleibt eine Existenz ohne Worte. Die Töchter umschleichen das Seelen-Verlies ihrer Mutter. Freilich kommen die Jungen gelegentlich auf Besuch, steigen ein in den abgeschlossenen Seelen-Quader, aber das bleiben choreographische Kürzest-Episoden. Es ist eben zu lange geschwiegen worden, die ist keine Tür mehr zu einem Gespräch. Alice ist nicht erst jetzt verschwunden, sie und ihre Töchter sind einander schon in deren Kindertagen abhanden gekommen, weil das Offensichtliche eben nicht benannt wurde, nicht hat benannt werden dürfen. „Alle schauen irgendwie nach unten“, heißt es einmal.

Der Körpersprache, dem Tanz kommt entsprechend hoher Stellenwert zu in dieser Inszenierung. Am Ende wird Alice herausgeholt, eigentlich herausgezwungen aus ihrem Seelenverlies. Es kommt zu einem Anflug von Nähe – und doch machen sich die vier Frauen zuletzt jede in eine andere Richtung davon. Das Schweigen zwischen den Generationen ist nicht zu brechen.

Und die Schneiderin? Die ist nicht Thema in diesem Stück. Die Töchter kennen nicht mal ihren Namen. Die Begegnungen, von denen sie erzählen, blieben steif und wurden rasch beendet. Es durfte nicht sein, was doch jeder sah. Auch der unterdessen verstorbene Ehemann von Alice. „Er hat es gewusst, aber nur die eine Gehirnhälfte“, sagt eine der Töchter, womit das Thema Vater auch schon wieder abgehakt ist.

Aufführungen bis 17. Februar 2023 – www.landestheater-linz.at
Bilder: Landestheater Linz / Petra Moser

 

 

 

 

 

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